Foundation | Welcome

Menu


„Die Umwelt-, Sozial- und Governance-Faktoren (ESG) spielen bei der Ermittlung des finanziellen Werts eine wichtige und wertvolle Rolle – und zwar ausgewogen“

Der Einsatz von ESG-Faktoren hat durch die Corona-Krise zweifelsfrei an Bedeutung gewonnen, die Ansätze sind allerdings differenzierter geworden. Frank Schnattinger, Chefredakteur IPE D.A.CH, sprach mit Adrie Heinsbroek, Principal Responsible Investing bei NN IP, über den aktuellen Stand der Diskussion.

Adrie Heinsbroek

IPE D.A.CH: Nicht zuletzt durch Covid-19 ist ESG im Asset Management allgegenwärtig. Haben wir den Peak erreicht oder war Corona nur der Katalysator für weitere Schritte?
Heinsbroek: Die Pandemie hat deutlich gemacht, dass eine gesunde Wirtschaft und eine gesunde Gesellschaft quasi miteinander verknüpft sind. ESG war jedoch bereits vor der Pandemie auf dem Vormarsch. Die ESG-Integration rückte nur stärker in den Fokus der Asset Manager. Themen, die auf dem Radar waren, bestätigten erneut ihre Bedeutung für die Beurteilung und Analyse von Unternehmen und Regierungen hinsichtlich ihres wirtschaftlichen und sozialen Kontextes. Wir können bereits jetzt feststellen, dass die Anpassungsfähigkeit und die Verantwortung der Unternehmen dazu beitragen, eine Widerstandsfähigkeit aus der Perspektive der Investitionsperformance aufzubauen. Und ja, es wird weitere Schritte geben. Die gegenwärtige Situation macht uns allen bewusst, dass wir uns auch darauf konzentrieren sollten, grundlegende Themen wie die zunehmende Umweltzerstörung und die mangelnden Fortschritte beim Abbau von Diskriminierung und Ungleichheit anzugehen. Meines Erachtens wird es künftig noch wichtiger sein zu verstehen, wie sich verschiedene Stakeholder verhalten. Nicht nur, um eine gesunde Gesellschaft zu gewährleisten, sondern auch, um eine widerstandsfähige Wirtschaft aufzubauen. Hier spreche ich von Unternehmen, aber auch von der Rolle des Staates und der Gewerkschaften, die mit den Unternehmen, zum Beispiel bei der Arbeitsplatzsicherheit, interagieren. Die Reaktion der Verbraucher auf Unternehmen und deren Verantwortungsbewusstsein in diesen Bereichen, wird auch an Gewicht und Aufmerksamkeit gewinnen.

IPE D.A.CH: Corona hat insbesondere auch den Faktor „S“ in den Fokus gestellt. Wird ESG künftig ausgewogener betrachtet als noch vor einigen Jahren als noch das „E“ dominierte?
Heinsbroek: Wenn wir nicht nur überleben, sondern langfristig Erfolg haben wollen, müssen Regierungen, die auf ESG-Faktoren und verantwortungsbewusstes Investieren achten, einen klaren Weg verfolgen. Um ein gemeinsames Ziel zu finden, sind Regierungen und Finanzministerien zunehmend bereit, die Interessen von Investoren zu Themen wie nachhaltige Entwicklung und soziale Inklusion zu berücksichtigen. Aus einem solchen Dialog können sich durchaus Chancen ergeben. In den kommenden Jahren sind zusätzliche Finanzmittel und auch eine Zusammenarbeit notwendig, sollten die Regierungen eine Chance haben, die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) zu erreichen. Also ja, wir denken, dass es zu einem besseren Gleichgewicht zwischen den Faktoren E, S und auch G kommen wird. Und das sollte in unseren Augen auch so sein. Die Umwelt-, Sozial- und Governance-Faktoren (ESG) spielen bei der Ermittlung des finanziellen Werts eine wichtige und wertvolle Rolle – und zwar ausgewogen. Natürlich kann je nach Thema einer der Faktoren relevanter sein. Im Allgemeinen ist es allerdings wichtig, dass wir alle drei Faktoren in die Gleichung einbeziehen. Experten, mit denen wir in Europa und den USA gesprochen haben, befürworten den Wiederaufbau der Wirtschaft durch die Umsetzung von ESG-Kriterien. Allerdings warnen sie davor, dass sich die Maßnahmen nicht darauf beschränken dürfen, zum Beispiel ausschließlich die Energiewende zu fördern. Die Regierungen können es sich nicht länger leisten, den „sozialen“ Aspekt von Nachhaltigkeit und ESG zu vernachlässigen.

IPE D.A.CH: Was sind grundsätzlich die „lessons learnt“ aus Corona für nachhaltige Investmentstrategien?
Heinsbroek: Wir haben während der Marktturbulenzen am Jahresanfang beobachtet, dass sich nachhaltige Investmentstrategien als widerstandsfähiger erwiesen haben. Wir haben auch die Erfahrung gemacht, dass in vielen Ländern zu einem gewissen Grad eine langfristige Umstellung auf ein Multi-Stakeholder-Modell stattfindet. Die Pandemie hat diesen Wandel beschleunigt. Es ist wichtig zu verstehen, dass der wahre Wert darin besteht, ein guter Corporate Citizen zu sein. Unternehmen profitieren davon, wenn sie sich um ihre Kunden, Mitarbeiter und andere Stakeholder kümmern – anstatt sich ausschließlich auf die Aktionärsgewinne zu konzentrieren. Diese Sichtweise ist Teil dessen, wie nachhaltige Strategien Investmentmöglichkeiten beurteilen. Es geht um den Kontext, in dem diese Unternehmen und Emittenten agieren, und darum, wie Regierungen handeln – also um Wechselwirkungen und Zusammenhänge. Unsere Definition von Wertschöpfung wird durch die gegenwärtige Krise verändert und erweitert werden. Der Wert des Sozialverhaltens – sich um Kunden und Mitarbeiter zu kümmern und nicht nur um Investoren (über Dividenden/Aktienrückkäufe) – ist eine der bedeutendsten Entwicklungen, die aus der Pandemie hervorgegangen sind. Wenn eine Multi-Stakeholder-Perspektive zum Motor für Wertschöpfung wird, erwarten wir, dass nicht-finanzielle Parameter bei der Bewertung und Prognose des Wertes zu einem noch mehr zu einem bestimmenden Faktor werden.

IPE D.A.CH: Mit welchen Veränderungen wird das Verbraucherverhalten Unternehmen verstärkt konfrontieren und wie reagieren Asset Manager bei der Titelauswahl?
Heinsbroek: Wie bereits erwähnt, gehen Unternehmen in vielen Ländern in gewissem Umfang zu einem Multi-Stakeholder-Modell über. Der reale Wert, der sich daraus ergibt, ein guter Corporate Citizen zu sein, bedeutet, dass ein Unternehmen davon profitiert, wenn es sich um seine Kunden kümmert. Schließlich stärken die Kunden die Daseinsberechtigung eines Unternehmens. Unternehmen ist jetzt bewusster, wie soziale Faktoren ihren Erfolg und ihren Ruf beeinflussen. Verbraucher und Investoren sind zunehmend geneigt, sich nach Unternehmen umzuschauen, die soziale Verantwortung übernehmen – und Zuwiderhandelnde zu meiden. Das bedeutet, dass Unternehmen weiterhin auf potenzielle Risiken in ihrem Tätigkeitsbereich achten müssen. Für die Unternehmen sind die potenziellen Folgen schlechter Unternehmensführung, sozialer und arbeitsrechtlicher Praktiken und instabiler Lieferketten verheerend. Um dies zu vermeiden, müssen sie mehr Verantwortung für ihre Aktivitäten entlang der Wertschöpfungskette übernehmen und ihrer Geschäftsstrategie einen Sinn geben. Für einige Investoren stellt sich nun die Frage, wie sie ein gutes Corporate Citizenship gewährleisten können, das darüber hinausgeht, was von einem Jahresbericht über soziale Verantwortung der Unternehmen erwartet werden kann. Vermögensbesitzer und Asset Manager haben dies erkannt und unterstreichen ihr Verantwortungsbewusstsein, indem sie ihre Rolle durch Engagement und Abstimmung ausbauen. Unternehmen haben oft damit zu kämpfen, ihre langfristigen Visionen mit kurzfristigen finanziellen Anforderungen in Einklang zu bringen – ein schwieriger Balanceakt. Ein Dialog zwischen Investoren und Vermögensinhabern über die Verantwortung und Rolle der Unternehmen in der Gesellschaft kann helfen, indem er Wege zur Wertschöpfung und Werterhalt findet. Wir als Investoren müssen Stellung beziehen, eine langfristige Perspektive haben und Teil einer zukunftsorientierten Agenda sein. Durch ein erhöhtes Engagement bei den Unternehmen können Investoren besser dafür sorgen, dass die Unternehmen Selbstregulierungsvereinbarungen und -standards einhalten. Und das ist noch nicht alles: Die Unternehmen müssen auch ihre Investitions- und Opex-Pläne offen legen. Diese sollten in den nächsten drei bis vier Jahren durch einen eingehenden Dialog mit der Asset-Management-Branche weiterentwickelt werden. Wenn Unternehmen nicht bereit sind, die erforderlichen Änderungen vorzunehmen, um ihre Aktivitäten und ihr Verhalten nachhaltiger zu gestalten, sollten Analysten und Asset Manager dies in ihren Unternehmensbewertungen berücksichtigen.

IPE D.A.CH: Wie wichtig sind klare Definitionen und Regelungen aus der Politik um gewissen Marktstandards für ESG in der Anlage zu schaffen?
Heinsbroek: Die Asset-Management-Branche übernimmt zunehmend die Verantwortung als „Investor erster Wahl“ und sucht nach Möglichkeiten, Finanzmittel für die Zukunftsgestaltung einzusetzen: Um Kapital in der Realwirtschaft zu investieren, um den Wandel voranzutreiben und um sicherzustellen, dass die Wirtschaft die Schritte vom Überlebenden hin zum Erfolgreichen gehen kann. Damit dieser Wandel nicht ins Stocken gerät und um den Investitionsfluss zu beschleunigen sowie sicherzustellen, dass er in die gewünschten Sektoren oder Bereiche fließt, ist es hilfreich, eine Orientierung über die Erwartungen oder Wünsche zu haben.
Die EU-Taxonomie beschreibt Maßnahmen, wie z. B. Nachhaltigkeit aus einem umweltpolitischen Blickwinkel, was die Transparenz für die Marktteilnehmer verbessern wird. Sie gewährleistet auch die Glaubwürdigkeit gegenüber Investoren, da sie zeigt, wie das Kapital allokiert wird. Definitionen und Beschreibungen haben also positive Auswirkungen. Allerdings ist die Bedeutung der Einhaltung dieser Themen komplexer als zunächst vermutet. Da es um die Allokation von Kapital für den Wandel geht, sollten wir als Investoren auch in der Lage sein, Kapital für Sektoren, Aktivitäten oder Unternehmen bereitzustellen, die diesen Wandel vollziehen, die sich in die gewünschte Richtung bewegen, aber noch nicht vollständig der Definition entsprechen. Dies ist ein Balanceakt. Wir unterstützen die Transparenz und Ausrichtung von Regelungen und Standards. Dennoch ist es wichtig, dass wir in der Lage sind, unseren Stakeholdern, einschließlich Kunden und Regierungen, zu erklären, dass wir auch einen anderen Weg einschlagen können, um das gemeinsame Ziel zu erreichen. Eine Standardisierung muss auch Handlungs- und Erklärungsspielraum dafür bieten, wie wir die zugrunde liegenden Metriken und Methoden anwenden.

IPE D.A.CH: Können externe Ratings Anlegern und Asset Managern helfen?
Heinsbroek: Meiner Ansicht nach ist es wichtig, den Mehrwert von Informationen externer Research-Agenturen bei der Performanceanalyse von Emittenten in Bezug auf ESG-Parameter zu berücksichtigen oder die Beteiligung von Emittenten an Aktivitäten, die als umstritten gelten, zu bewerten. Ebenso wichtig ist es aber auch, sich darüber im Klaren zu sein, dass diese Informationen Input und nicht Output sind. Asset Manager sollten ihre eigene Analyse durchführen und die Informationen, seien es nun Scores, Zahlen zur Kohlenstoffintensität oder sogar Rankings, in einen Kontext, eine Methodik oder eine Arbeitsweise einbinden. Bei NN IP haben wir unseren eigenen internen ESG-Indikator entwickelt, auch für Staaten. Für unser Engagement nutzen wir auch Informationen und Berichte aus der Öffentlichkeit, z.B. von Umwelt-NGOs. Dennoch sind wir selbst für unseren Standpunkt verantwortlich.

IPE D.A.CH: In den Anfängen war ESG noch sehr stark auf den Aktienmarkt fokussiert, sehen Sie das Thema jetzt auch in der Breite – über alles Assetklassen – wirken?
Heinsbroek: Eine Möglichkeit, wie Vermögensbesitzer und -verwalter einen stärkeren und langfristigen Wiederaufbau unterstützen können, besteht darin, den Investoren ein breiteres Spektrum an verantwortungsbewussten Investmentoptionen zu bieten. Der aktuelle Stand des verantwortungsbewussten Investierens und die Möglichkeiten, die es bietet, spiegeln sich z. B. in Rentensystemen nicht wider. Und das sollte sich ändern. Dies könnte in naher Zukunft der Fall sein, da die Menschen mehr verantwortungsbewusste Investitionsmöglichkeiten fordern. ESG-Faktoren sind eine Orientierungshilfe für Investoren, die wirklich helfen, fundierte Investmententscheidungen zu treffen und diese aktiv umzusetzen. Die ESG-Performance eines Portfolios ist zu einem Maßstab für Wertschöpfung und Widerstandsfähigkeit geworden. Wir verwenden ESG- und Nachhaltigkeitsparameter auch zur Auswahl und Bewertung von Projekten und Assets, wie zum Beispiel Infrastruktur.

IPE D.A.CH: Früher ging es oft um zusätzliche Kosten oder geringere Erträge als Argument gegen ESG-Strategien, ist dies im Markt noch präsent?
Heinsbroek: Es überrascht mich, dass dies immer noch ein, wenn auch kein weit verbreitetes, Argument, ist – trotz aller veröffentlichten Studien und die in diesem Jahr kürzlich erfolgte Veranschaulichung verbesserter Risiko-Rendite-Eigenschaften und größerer Widerstandsfähigkeit. Zu den Kosten: ESG-Daten, Informationen sowie ein verantwortungsbewusster Investor zu sein, indem man Stimmrechte ausübt und mit Beteiligungsunternehmen und Emittenten zusammenarbeitet, erfordert Zeit und Mühe. Damit sind Kosten verbunden, aber man erhält wertvolle Informationen und Erkenntnisse, die dabei helfen, fundierte Investitionsentscheidungen zu treffen. Daher sollte der Schwerpunkt auf dem Mehrwert liegen.

IPE D.A.CH: Viele Investoren sehen ESG-Strategien mittlerweile als Teil ihres Risikomanagements, hilft dies bei der stärkeren Marktdurchdringung?
Heinsbroek: Kurz gesagt, es hilft. ESG-Informationen und -Analysen sind ein wertvolles Instrument, um versteckte Risiken aufzudecken. Sie können unsere Aufmerksamkeit auf bisher vernachlässigte Probleme in der Lieferkette und auf Verbindlichkeiten lenken, die wir nicht verstanden haben. Die Aufsichtsbehörden in mehreren Ländern verlangen auch Informationen über das Klimarisikobewusstsein der Finanzmarktteilnehmer. Es geht aber immer mehr auch um Chancen. Regierungen bieten politische Unterstützung an, die darauf abzielt, Unternehmen in eine nachhaltigere Richtung zu lenken. In Europa zum Beispiel ist die Führung in diesem Bereich ausgeprägt. Der „Green Deal“ der EU und ihr Maßnahmenplan für nachhaltige Finanzierungen werden Investoren dabei unterstützen, Investitionsstrategien besser zu verstehen und Prioritäten zu setzen, da die EU-Taxonomie festlegt, was als nachhaltige Investition gilt. Dies wird Investitionen lenken. Die Regierungen werden sich nun an die Finanzmärkte wenden, um spezifische Forderungen mit einem klaren Ziel für verantwortungsbewusste Investitionen zu stellen. Produkte wie Green Bonds oder Recovery Bonds können auch genutzt werden, um die wachsende Verschuldung zu finanzieren, die die Regierungen aufnehmen, um die Auswirkungen der Pandemie abzuschwächen, die wirtschaftliche Erholung zu unterstützen und die ökologischen Herausforderungen der globalen Erwärmung zu bewältigen. Verantwortungsbewusstes Investieren ist kein Trend oder eine Mode; es ist die Normalität der Zukunft.

IPE D.A.CH: Besten Dank für diese Einschätzungen.