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Gastbeitrag: Unklarer Ausgangspunkt – woher stammt die Verwirrung innerhalb der ESG-Debatte?

In einem Artikel aus dem Jahr 2017 habe ich den Standpunkt vertreten, dass das damalige Verständnis der Investitionstheorie, welches die Finanzwelt fast vollständig von der realen Welt abzutrennen schien, erheblich zur Finanzkrise 2008 beigetragen hat.

Saker Nusseibeh

Nur wenige Jahre später haben ESG-Anlagen weitläufig Einzug in die Vermögensverwaltung gehalten. So gesehen hat der von mir und einigen anderen seit langem befürwortete Ansatz des verantwortungsbewussten Investierens breiten Anklang gefunden. Das freut mich sehr.

Die Branche hat einen von Adam Smith, dem Vater des Wirtschaftsliberalismus, vertretenen Ansatz übernommen. Adam Smith ist für die These aus seinem Hauptwerk bekannt, dass „rationales Eigeninteresse“ und Wettbewerb zu wirtschaftlichem Wohlstand führen können. Weniger bekannt ist hingegen, dass er in seiner Theorie der ethischen Gefühle Wohlstand an den „Erhalt der Gesellschaft“ knüpft. Ich denke, Smith wäre erfreut darüber, wie unsere Branche den Zusammenhang zwischen langfristigem finanziellem Erfolg und dem Wohl der Gesellschaft endlich begriffen hat.

ESG-Anlagen auf dem Prüfstand
Weniger beeindruckt wäre er allerdings von den weltweit völlig gegenläufigen und oft eigennützigen Auffassungen hinsichtlich des Ziels nachhaltiger Anlagen und der Frage, was eine „nachhaltige Anlage“ ausmacht. Gepaart mit Greenwashing-Vorwürfen hat dies dazu geführt, dass die Wirksamkeit von ESG-Anlagen mit wachsendem Zynismus kommentiert wird.

Kürzlich haben wir gehört, wie sich ein leitender Asset Manager aus Großbritannien über die Übertreibung des Klimawandels beklagt hat. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine befeuerte die Anschuldigungen, dass ESG-Anlagen nur ein Greenwashing-Trick seien. Dieser Trick sei aufgedeckt worden durch das Bekanntwerden von Engagements im „Pariastaat“ Russland. Außerdem werden ESG-Anlagen nun auch als Gefahr für die Energiesicherheit betrachtet.

Das ist die Problemlage. Aktuell kursieren in der Debatte unzählige wenig fundierte Thesen, die ganz unterschiedliche Themen unter dem Schlagwort „ESG“ zusammenfassen, als handle es sich um einen universell anwendbaren Ansatz, der sich über einen beliebigen Zeithorizont beurteilen lässt.

Langfristige Lösungen statt kurzfristiger Ergebnisse
Doch das ist nicht richtig. Der Begriff ist weit gefasst und umfasst verantwortungsbewusste Anlagen, Negativ-Screening (Ausschluss gravierender ESG-Verstöße), Positiv-Screening (Suche nach den besten ESG-Performern), nachhaltige Anlagen und Impact Investing. Alles hängt von den Präferenzen der Anleger ab.

Und alles ist langfristig zu betrachten: Der Klimawandel und seine Auswirkungen sind nun Realität. Aus Anlegersicht ist es grundsätzlich die richtige Entscheidung, ihn heute bestmöglich einzudämmen, um seine schlimmsten Langzeitfolgen abzuwenden. Unter gesellschaftlichen Gesichtspunkten ist dies ohnehin selbstverständlich. Doch nun schleicht sich immer mehr die Frage nach dem Zeithorizont in die Diskussion rund um ESG-Anlagen und ihre Wirksamkeit ein.

Als Anleger ist es unsere Aufgabe, über einen Zeitraum von zehn und mehr Jahren nachhaltig Wert zu schaffen. Und doch erstreckt sich der traditionelle Track Record, der Anlegern vermittelt wird und anhand dessen wir Vermögensverwalter häufig urteilen, über ein, drei und fünf Jahre. Viele Unternehmen, in die wir investieren, werden – wenn sie börsennotiert sind – mittels vierteljährlicher Offenlegungspflichten über einen noch kürzeren Zeitraum betrachtet. Die gesamte Debatte über ESG-Anlagen wird von diesem Drang nach kurzfristigen Ergebnissen bestimmt.

Den Blick weiten
Während ein Anleger über kurze Zeiträume gute Renditen erzielen kann, zeigen sich die tatsächlichen Auswirkungen von Anlagen und Engagements in Unternehmen erst über einen deutlich längeren Zeithorizont – ein Zeitraum, der die nachteiligen Auswirkungen auf das Vermögen, die beispielsweise aus ökologischen und gesellschaftlichen Risiken resultieren, zwingend berücksichtigen muss.

Die nächste große Debatte in unserer Branche sollte sich daher nicht mit den Vorzügen von ESG-Anlagen befassen. Für mich – ebenso wie für einen Großteil unserer Branche – sind sie bereits unerlässlich. Vielmehr müssen wir uns über den Zeithorizont klar werden, über den wir uns selbst beurteilen sollten. Was ist entscheidend: der Zeitrahmen, den sich die Finanz- und Geschäftswelt zum Maßstab nimmt? Oder der Zeithorizont, in dem die Endbegünstigten denken? In letzterem Fall profitieren sie von Anlagemanagern, die mittels langfristiger Planung nach Anlagechancen suchen, neben traditionellen finanziellen Erwägungen auch ESG-Faktoren einbeziehen und Wert auf ein ehrliches Engagement sowie aufrichtigen Dialog mit den Unternehmen legen, in das sie investieren. Wenn Sie einen kürzeren Zeithorizont verfolgen, ist die Diskussion eine völlig andere.

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*) Saker Nusseibeh, CBE – CEO von Federated Hermes Ltd