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Kommentar: Homo Oeconomicus - wenig Science und viel Fiction

Die Theorie besagt, dass sich Preisbewegungen an den Finanzmärkten durch fundamentale Entwicklungen und das Verhalten rationaler Marktakteure erklären lassen. Ein Blick durch die Realitätsbrille offenbart aber ein komplexeres Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage und lässt das Bild des Homo Oeconomicus ins Wanken bringen.

Rocco Rafael

Der Homo Oeconomicus, das heißt die Vorstellung eines ausschließlich „wirtschaftlich“ denkenden Menschen, der die Fähigkeit zu uneingeschränktem, rationalem Verhalten hat, wird in der Finanzwissenschaft ähnlich häufig erwähnt wie die Effizienz-Markt-Hypothese. Auf beiden Konzepten beruhen eine unzählige Anzahl von Modellen und Entscheidungen an den Finanzmärkten und in der Folge beachtlicher Geldbewegungen zum Zwecke von Investitionen, Absicherungen, Diversifikationen und vielem mehr. Die Frage nach der Effizienz der Märkte impliziert auch die weitergehende Frage: „Mit welcher Brille betrachtet sollen Märkte denn effizient sein?“. Die rein „fundamentale“ Brille jedenfalls lässt einen da oft durch beschlagene Gläser schauen.

Erst recherchieren, dann investieren
Folgende Beispiele lassen Zweifel aufkommen, dass an den Finanzmärkten immer der Verstand dominiert:

*Am 17. Dezember 2014 gab der damalige US-Präsident Barack Obama bekannt, die Beziehungen zu Kuba verbessern und dank engerer Zusammenarbeit die wirtschaftliche Entwicklung in dem Land unterstützen zu wollen. Innerhalb der folgenden vier Handelstage stieg der unter dem Kürzel „CUBA US“ laufende Exchange Traded Fund (ETF) um mehr als 100%. Das Problem an der Sache: der CUBA-ETF hat abgesehen vom Namen nur sehr wenig mit Kuba zu tun. Er investiert in Firmen des karibischen Beckens oder mit Exposure zu der Region. Und während die einzelnen Aktien des ETF innerhalb des ersten Tages nur um insgesamt 2% anstiegen, legte der CUBA-ETF bereits mehr als 40% zu. Solche „Verwechslungen“ kommen an der Börse häufig vor.

*Im Januar 2021 ließ der amerikanische Multi-Unternehmer Elon Musk im Rahmen einer Aktualisierung der Whatsapp-Nutzungsbedingungen verlauten, man solle besser den Messenger-Dienst Signal verwenden. In der Folge schossen die Aktien von „Signal Advance“ innerhalb weniger Tage um mehr als 11.000% in die Höhe. Dies zur starken, wenn auch kurzzeitig erfreulichen, Verwunderung aller bisherigen Aktionäre dieses Herstellers medizintechnischer Geräte ohne Messenger-Dienst im Angebot.

*Ähnlich ging es Aktionären der insolventen Zoom Technologies (damaliger Ticker „ZOOM US“), einem ehemaligen Hersteller von elektronischem Equipment. Als die im Zuge der Covid-19 Krise empfohlenen Social-Distancing-Maßnahmen dazu führten, dass vermehrt auf Video-Konferenzen gesetzt wird, war die Firma „Zoom Video Communications“ (Ticker „ZM US“) aus Investorensicht einer der Nutznießer. Die sehr naheliegende Verwechslung liess allerdings auch die falsche „Zoom-Aktie“ kurzfristig um mehr als 2.000% ansteigen.

Interessensgruppen im Angriffsmodus
Ende Oktober 2008 stiegen die Stammaktien (mit Stimmrecht) der Volkswagen AG binnen Tagen um 400%, während die Vorzugsaktien (ohne Stimmrecht) sich normal entwickelten. Im Zuge einer potenziellen Übernahme durch Porsche mussten Leerverkäufer der Stammaktie ihre Positionen durch Käufe (zu „jedem“ Preis) decken. Fundamentale Bewertungen spielten dabei keine Rolle. Es ging um Schadensminimierung und Risikomanagement dieser Investoren.

Ein ähnliches Phänomen konnte man kürzlich beobachten. Über soziale Netzwerke „verabredeten“ sich tausende Marktteilnehmer dazu, bestimmte Aktien zu kaufen, um durch steigende Preise andere Marktteilnehmer (Leerverkäufer) ebenfalls zum Kaufen zu zwingen. Gamestop, Blackberry und AMC Entertainment sind nur einige Beispiele. Diese Short Squeeze genannten Effekte liessen einige dieser Aktien in kurzer Zeit um mehrere hundert Prozent ansteigen. Mit der Brille der Fundamentalanalyse lassen sich solche Aktienbewegungen und -bewertungen schwer erklären. Mit der Brille von Angebot und Nachfrage hingegen schon.

„En vogue“ verändert das Orderbuch
Obige Beispiele legen nahe, dass sich das Kauf- und Verkaufsverhalten vieler Marktteilnehmer über Berichterstattung, Medien und Vermarktung beeinflussen lässt. Gerade bei Entscheidungen unter Unsicherheit neigen wir Menschen dazu, uns der Mehrheit anzuschließen oder vermeintlichen Experten ungeprüft zu folgen.

Eine häufige Berichterstattung zu Aktie A (nennen wir sie fiktiv TEZLAR) oder Thema B (zum Beispiel Wasserstoff) führt dazu, dass die Wahrnehmung und somit Wahrscheinlichkeit des Handelns in diesen Titeln steigt. Allein der dadurch (bei positiver Berichterstattung) steigende Preis führt wiederum dazu, dass weitere Marktteilnehmer auf den fahrenden Zug aufspringen, um weitere Preissteigerungen nicht zu verpassen. So ist in diversen Untersuchungen ein klarer Zusammenhang zwischen der Berichterstattung und dem Verlauf der entsprechenden Aktienkurse zu erkennen.

Angebot & Nachfrage bestimmen die Preise
Finanzmarktkurse werden in erster Linie durch das Orderbuch und somit Angebot und Nachfrage bestimmt. Wollen mehr Marktteilnehmer kaufen als verkaufen und sind diese bereit ihre Preisvorstellungen anzupassen, steigt der Preis (und vice versa).

Die Gründe, welche Marktteilnehmer zum Kauf oder Verkauf veranlassen, sind vielfältig. Die einen müssen, andere wollen. Manche entscheiden rational, kommen aber aufgrund anderer Anreize, Anlageprozesse oder Risikobudgets zu anderen Entscheidungen, als der ebenso rational entscheidende Mitstreiter. Wiederum andere sind emotional getrieben und handeln aus Gier, Angst, dem Adrenalinkick oder weil sie sich schlicht „verlesen“ haben. Gründe und Beweggründe sind so zahlreich wie es Kurse innerhalb eines Tages gibt, und immer häufiger finden Kernspintomografen Beweise in unseren Köpfen, dass der Homo Oeconomicus wenig Science und viel Fiction ist.

Wenn man also die Märkte nur mit der Brille der reinen Fundamentalanalyse betrachtet, ist es wenig verwunderlich, dass man sich oft nicht erklären kann, was man momentan sieht. Dass die Fundamentalanalyse ihren Wert hat, steht außer Frage, und gerade für die Unternehmensanalyse sollte sie fester Bestandteil der Entscheidungsfindung sein. Mit Blick auf das Verhalten der Märkte ist es aber hilfreich, regelmäßig eine andere Brille, wie zum Beispiel die der Behavioural Finance, aufzusetzen. In der Regel wird die Sicht dann deutlich klarer.

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*) Rocco Rafael, Manager des Swisscanto (LU) Equity Fund Responsible Innovation Leaders, ist seit September 2008 bei der Zürcher Kantonalbank im Asset Management tätig. Für Aktien und Rohstoffe liefert er die Faktoren Behavioural Finance und Technische Analyse, welche wichtige Entscheidungsgrundlagen im Anlageprozess darstellen. Als Analyst deckt er Düngemittel- und Agrarchemie und Teile der IT ab. Rafael schloss 2006 sein Studium der Wirtschaftswissenschaften mit den Schwerpunkten Finanz- & Bankwirtschaft, Marketing und Entrepreneurship & Innovationsmanagement an der Humboldt Universität in Berlin ab.