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Ölpreis-Rodeo: Marktkorrektur oder Menetekel?

Erst Aufruhr, dann Euphorie: Ende April rutschte der Preis für amerikanisches Öl erstmals in der Geschichte des modernen Ölhandels ins Minus, Anfang Mai überraschte er dann mit einem Anstieg von 100% in nur drei Tagen. Nur: So schnell wie es aufwärts ging, wird der Markt auch wieder fallen, denn der Preisrutsch ist Zeichen der Krise des Ölmarktes und der Industrie im Allgemeinen.

Mark Lewis

Die Gründe für den akuten Verfall des Ölpreises sind vielfältig: Sinkende Nachfrage, hausgemachte Schwierigkeiten, wie das Kräftemessen der ölfördernden Nationen Russland und Saudi-Arabien, und die wachsende Konkurrenz durch die Erneuerbaren Energien. Dabei kämpft die Industrie an zwei Fronten, denn der Einbruch betrifft nicht nur den Absatz an die Verbraucher, sondern zunehmend auch das Vertrauen der Investoren. All dies zeigt, die Krise der Branche dauert an.

Und so ansteckend das Coronavirus auch sein mag: Die Rohstoffmärkte hat es nicht erfasst. Vielmehr ist die Berg-und-Talfahrt beim Ölpreis ein klares Zeichen dafür, dass langsam das Ende des Ölzeitalters in Sicht kommt.

Anhaltender Druck auf die Ölbranche
Die zum Teil durch den Handelskrieg bedingte Neuausrichtung, Insourcing – die Eingliederung von zuvor ausgelagerten Prozessen in die Unternehmen – sowie der Rückzug aus der Globalisierung zugunsten des lokalen Handels und einer Produktion vor Ort setzten die Ölnachfrage schon länger unter Druck. Dies wird nun durch die Pandemie noch verschärft, da Millionen Menschen jetzt von zu Hause aus arbeiten, Messen, Konferenzen und andere große Versammlungen meiden und wenig fliegen.

Doch die Hochzeit des schwarzen Goldes war schon vor der Corona-Krise vorbei: Die Ölnachfrage in den USA, dem weltweit größten Ölverbraucher, war bereits 2005 mit 20,8 Mio Barrel pro Tag auf dem Höchststand. Dieses Nivea ist seitdem nicht mehr erreicht worden – obwohl die US-Bevölkerung von 2005 bis 2019 um 20 Mio Menschen gewachsen ist und die gefahrenen Fahrzeugmeilen im gleichen Zeitraum um fast 10% auf 9 Mrd. Meilen pro Tag zunahmen.

Neben der zurückgehenden Nachfrage setzt auch die Überproduktion dem Ölmarkt tüchtig zu. So gab es Streit zwischen den Produktionsländern Saudi-Arabien und Russland bezüglich einer Drosselung der Förderung zur Preisstabilisierung: Saudi-Arabien steigerte seine Ölproduktion und startete so einen Preiskampf mit Russland. Am Ende haben beide verloren. Der saudische Schachzug blieb ein Machtspiel, das darauf zielte, die Vormachtstellung des Königreichs gegenüber anderen Anwärtern auf den Titel als größter Ölproduzent der Welt zu behaupten. Was aber, wenn an der Sache mehr dran ist?

Es könnte auch eine ganz neue Bewertung hinter dem dramatischen Schritt Saudi-Arabiens stehen. Wenn es nämlich Ländern wie China und Indien langfristige Kaufverträge für große Mengen Öl zu einem Festpreis von – angenommen – 40 bis 50 US-Dollar pro Barrel anbietet, wäre dies eine Win-Win-Strategie, sowohl für das Königreich als auch für die großen Importländer. Saudi-Arabien bekäme langfristige Planbarkeit und einen Preis, der immer noch hohe Gewinne abwirft. Und China und Indien würden langfristige Versorgungssicherheit zu erschwinglichen, stabilen Preisen erhalten.

Wer auf den billigsten und reichlich sprudelnden Ölvorräten der Welt sitzt, hat doch ein Interesse daran, in den nächsten Jahrzehnten so viel wie möglich davon zu verkaufen, bevor die Welt von Energie aus fossilen Brennstoffen gänzlich Abstand nimmt, oder? Zumal die Ölförderstaaten, wie Saudi-Arabien und Russland, mit den Einnahmen große Teile ihrer Staatshaushalte finanzieren.

Konkurrenz durch die Erneuerbaren
Als weiteres Problem der Ölindustrie kommt die stetig steigende Wirtschaftlichkeit der Erneuerbaren Energien hinzu, also ihre wettbewerbsfähigen, sinkenden Kosten. Als Beispiel zu nennen sind etwa die aktuellen Preise für Offshore-Windenergie in Großbritannien mit 40 Euro pro Megawattstunde (MWh), Onshore-Windkraft in Europa mit 40 bis 50 Euro pro MWh und Solarenergie aus Südeuropa mit unter 40 Euro pro MWh.

Die Wettbewerbsfähigkeit Erneuerbarer Energien im Vergleich zu fossilen Brennstoffen hat in den letzten drei bis vier Jahren stark zugenommen. So sind etwa mit Wind- und Solarenergie-betriebene E-Autos schon heute deutlich wirtschaftlicher als Autos mit Verbrennungsmotor – dies zeigt unsere Untersuchung „Wells, Wires and Wheels“. Demnach liegt der „Break-Even-Point“, an dem für dasselbe Geld dieselbe Menge an Antriebsenergie zur Verfügung steht, bei etwa 9 bis 10 US-Dollar pro Barrel Öl, wenn dieses in Benzinmotoren fließt und 17 bis 19 US-Dollar pro Barrel bei Dieselmotoren. Damit Öl wettbewerbsfähig bleibt, muss dessen Preis praktisch fallen.

Und mehr noch: Regierungsmaßnahmen zur Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels durch Dekarbonisierung begünstigen die Erneuerbaren weiter. So bestehen vielfach Forderungen an die Regierungen, etwa die Luftqualität zu verbessern, insbesondere in Städten in Entwicklungsländern wie China und Indien, und ihre Abhängigkeit von importierten Brennstoffen oder bestimmten Lieferanten zu verringern.

Diese Bemühungen mögen zunächst von der Agenda verschwinden, solange sich die Regierungen auf die Corona-Krise konzentrieren, aber sie werden sich danach schnell wieder durchsetzen. Sie könnten sogar noch an Bedeutung gewinnen, wenn Regierungen ihre Ausgaben erhöhen, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln.

Kampf um die Kapitalgeber
Auch Investoren weltweit rechnen mit spitzem Bleistift. Sie haben die Wahl: Entweder sie nutzen die Vorzüge eines Investments in Erneuerbare Energien mit einer langfristigen Preisstabilität und gesicherter Abnahme für 25 Jahre; oder aber sie wählen Öl und erhalten eine enorme Volatilität.

Laut dem Finanzportal Onvista lag die Shell-Aktie am 20. Mai 2020 für alle angezeigten Zeiträume, also von 5 Tagen über bis hin zu 10 Jahren, im Minus. Am schlechtesten war die Performance für ein Jahr, mit -48,48%. Bei BP oder Total sah es zum Stichtag ganz ähnlich aus, wobei diese Titel zumindest für Monatsfrist wieder ins Positive gedreht sind.

Und trotz zwischenzeitlicher Kursgewinne sind Ölfirmen als Investitionsziel immer weniger attraktiv: Der ultimative Lackmustest sind hier die Dividenden. So hat Equinor – ehemals StatOil – seine Dividende im April um zwei Drittel gekürzt. Der norwegische Öl-Konzern kündigte an, dass er seine Dividende für die ersten drei Monate des Jahres 2020 kürzen werde, um die Bilanzkapazität zu sichern, die Liquidität zu stärken und weitere Investitionen zu unterstützen. Wenig später kürzte auch der britisch-niederländische Konkurrent Royal Dutch Shell seine Dividende um zwei Drittel – zum ersten Mal seit 1945.

Dies sind sehr bedeutende Entwicklungen. Denn wenn Equinor und Shell der Beginn von Dividendenkürzungen anderer Player sind, dann entfällt ein wichtiges Argument für ein Investment in die Ölbranche. Investoren stellen sich dann die Frage: Warum investieren wir in diese Unternehmen, wenn wir keine Dividende bekommen? Es wird zunehmend schwieriger für Wachstum zu plädieren und immer schwieriger, die Renditen zu erwirtschaften, die die Branche in der Vergangenheit erzielt hat. Doch wenn diese Argumente wegfallen, welches Argument bleibt dann noch?

Auch wenn es für genaue Prognosen noch zu früh ist, ist damit zu rechnen, dass der Ölpreis in drei bis vier Jahren wieder steigen wird, wenn das derzeitige Überangebot abnimmt. Dies ist jedoch kein Risiko für die Energiewende, sondern wird sie nur weiter beschleunigen: Bis dahin werden die Erneuerbaren Energien nochmals deutlich billiger sein. Auch die Energiespeicherung wird günstiger. Wenn der Ölpreis also in drei oder vier Jahren wieder bei 80, 90, 100 US-Dollar pro Barrel liegt, wird dies die Abkehr vom Öl nur noch weiter beschleunigen. Die Warnung an die Öl-Produzenten steht also an der Wand – und sie blinkt in Neonschrift.

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*) Mark Lewis ist Leiter der Nachhaltigkeits-Forschung bei BNP Paribas Asset Management.