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Kommentar: Growth- vs. Value-Titel – eine überholte Debatte mit zwei Schwächen

Nach dem Schock der Corona-Krise ist viel vom Beginn eines neuen Konjunkturzyklus die Rede: von einem höheren Wachstum des Bruttoinlandsproduktes, einer höheren Inflation, steigenden Zinssätzen und einer neuen Kauflaune.

Hendrik-Jan Boer

Viele Investoren überlegen daher, die in den letzten Jahren so erfolgreichen Growth-Titel jetzt zugunsten von Value-Aktien niedriger zu gewichten, da sich diese zu Beginn neuer Zyklen meist positiv entwickelten.

Als aktive Investoren sind wir bei Neuberger Berman jedoch nicht auf der Suche nach klassischen Growth- oder Value-Unternehmen, sondern nach sogenannten „Quality Compounders“ und „Transition Winners“, also langfristig aussichtsreiche Qualitätstitel und Strukturgewinner. Denn die immer wiederkehrende Diskussion über Growth und Value hat zwei potenzielle Schwächen:
*Es besteht kurzfristig das Risiko, dass man langfristig aussichtsreiche Qualitätstitel für traditionelle Wachstumswerte hält und sie jetzt verkauft. Das wäre ein Fehler.
*Weiter stellt sich die Frage, ob das traditionelle Denken in Konjunkturzyklen grundsätzlich noch zeitgemäß ist.

Dauerhafte Wettbewerbsvorteile
Qualität ist die Fähigkeit aufgrund nachhaltiger Wettbewerbsvorteile in einer Wertschöpfungskette mit hohen Eintrittsbarrieren, eine hohe Kapitalrentabilität zu erreichen – und das unabhängig vom Zyklus. Diese Abgrenzung von der Konkurrenz ist allgemein als „Competitive Moat“ bekannt, ein sprichwörtlicher „wirtschaftlicher Wallgraben“.

Diese Unternehmen sind langfristig aussichtsreich, weil ihre stetigen Cashflows dazu verwendet werden können, zukünftiges Wachstum mittels Innovationen, Investitionen oder Übernahmen zu generieren. Sie müssen weder Kredite aufnehmen noch Aktien emittieren und können daher auch in wirtschaftlichen Schwächephasen investieren, während sich andere zurückhalten und Schulden tilgen.

Strukturgewinner sind jene Unternehmen, die sich schnell an ein neues Umfeld anpassen können. Das ist ein großer Vorteil in Zeiten des Wandels, wenn traditionelle Wertschöpfungsmuster infrage gestellt werden – sei es durch Kohlenstoffreduktion im Energiesektor, Änderungen des Verbraucherverhaltens einem verbesserten Zugang zu Gesundheitsversorgung und Finanzdienstleistungen oder die Digitalisierung der Wirtschaft.

Auf den ersten Blick mögen solche Firmen wie traditionelle Wachstumsunternehmen wirken – schließlich steigen ihre Gewinne schneller als der Marktdurchschnitt. Aber nicht alle Wachstumswerte sind langfristig aussichtsreiche Qualitätstitel.

Ein Unternehmen kann seinen Gewinn schließlich auch dadurch steigern, dass es in einen spannenden neuen Markt einsteigt, viel Fremdkapital aufnimmt oder ökologische und soziale Nachhaltigkeitsfaktoren missachtet. Ohne einen echten „Wallgraben“ können Konkurrenten solche Firmen leicht angreifen. Wenn sie dann noch hoch verschuldet sind, wird es noch schwieriger. Auf Dauer drohen Kundenverluste, Reputationsskandale oder „gestrandete“ Vermögenswerte. Echte Qualitätsunternehmen vermeiden solche Fallen.

Bewertungen
Weiter stellt sich die Frage, ob langfristig aussichtsreiche Qualitätstitel derzeit zu teuer sind oder ob sie in den nächsten Monaten schlechter als Value-Werte abschneiden werden.

Viele Quality Compounders profitieren von der Digitalisierung, der besseren medizinischen Versorgung und den immer bewussteren Konsumenten. Fast zwangsläufig werden sie dadurch irgendwann zu Großunternehmen – man denke an Firmen wie Alphabet, Thermo Fisher und Amazon. Entsprechend teuer scheinen auch die Bewertungen zu sein.

Aber das sind längst nicht alle: Zu den langfristigen Qualitätstiteln zählen auch mittelgroße, weniger bekannte Unternehmen aus einer Reihe von anderen Sektoren.

Ein Unternehmen kann schnell teuer erscheinen, wenn man das Wachstum nur aus der Perspektive von zwei oder drei Jahren betrachtet und nicht den Effekt eines stetigen, kumulativen Wachstums über zehn Jahre beachtet.

Beim Vergleich zwischen kurzfristigem, aber rasantem Wachstum mit langanhaltendem und gleichmäßigem Wachstum unterschätzen Investoren oft den kumulativen Effekt des nachhaltigen Zinseszinses.

Weniger nachhaltige, traditionelle Wachstumsunternehmen dürften daher eher Gefahr laufen, schlechter als Value-Titel zu performen, als langfristig aussichtsreiche Qualitätsfirmen.

Quality Compounders sind wie erfolgreiche Rennradfahrern: Ihre Reserven tragen sie über kurzfristige Schwierigkeiten hinweg. Sie liegen vielleicht eine Zeit lang nicht vorne, aber sie liegen auch nicht lange hinten. Weil solche Unternehmen selbst in der größten Krise weiter investieren und sich anpassen können, bieten sich für sie oft Chancen, Marktanteile zu gewinnen, auf die sie in der Erholungsphase weiter aufbauen können.

Wandel und Disruption
Wenn Sie jetzt an jene großen und kleinen Unternehmen denken, die mit der Coronakrise und der Digitalisierung gut zurechtgekommen sind, ist das kein Zufall und führt uns zurück zum Ausgangspunkt.

Die ganze Diskussion über Growth und Value beruht auf der Annahme, dass Konjunkturzyklen durch – branchenspezifische – Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage Konjunkturzyklen ausgelöst werden. Bei Neuberger Berman sind wir hingegen der Meinung, dass der verstärkte Technologieeinsatz in allen Sektoren diese Zyklen nahezu geglättet hat.

Wichtiger denn je sind geistiges Eigentum, einschließlich Forschung und Entwicklung sowie Humankapital, aber auch der Reputationswert einer Marke und gesellschaftliches Engagement. Wir leben nicht mehr in einer Welt der Konjunkturzyklen, sondern in einer Welt langfristiger Umbrüche und periodischen Disruptionen. Wer kann schon sagen, ob ohne die Unterbrechung durch die Coronavirus-Pandemie, die den Übergang zu einer digitalisierten Wirtschaft enorm beschleunigt hat, das letzte Jahrzehnt der Expansion nicht noch viele weitere Jahre angehalten hätte?

Langfristig hochwertige Quality Compounders, die frei von externen Finanzierungsrisiken und mit umfangreichem immateriellem Kapital Cashflows generieren, können in einer Welt des Wandels und der Disruption überdurchschnittlich erfolgreich sein. Das ist der Hauptgrund dafür, weshalb wir es für problematisch halten, in Begriffen wie Growth versus Value zu denken – vor allem, wenn es dazu führt, dass Investoren sich gegebenenfalls auch von langfristig hochwertigen Quality Compounders trennen könnten, wenn sie jetzt aus klassischen Wachstumstiteln aussteigen.

Investoren trennen sich dann vielleicht nicht nur von Unternehmen, die dann erfolgreich sein können, wenn andere Wachstumsunternehmen zu kämpfen haben; sie könnten auch den Zugang zu den Gewinnern des nachhaltigen Wandels in einer Reihe von Branchen verlieren, - den Unternehmen, die ihre Position durch bevorstehende Disruptionen am ehesten stärken werden.

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*) Hendrik-Jan Boer, Head of Global Equities Group bei Neuberger Berman