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Kommentar: Die fünf Phasen einer Kapitalmarktkrise

Das Kübler-Ross-Modell skizziert eine Reihe von Emotionen, die unheilbar kranke Patienten oder Hinterbliebene empfinden. Ein ähnlicher Prozess ist auch in Marktkrisen zu beobachten, so auch in der Corona-Krise. Mit der Depression befinden sich die Märkte derzeit in der vierten von fünf Phasen und haben die neue Realität eingepreist. Die letzte Phase der Akzeptanz wird erst dann eintreten, wenn die Infektionsraten sinken und das Ende von Abschottung und Social Distancing in Sicht ist, was noch Monate dauern könnte.

Yoram Lustig

Das Kübler-Ross-Modell, auch bekannt als Sterbephasen- oder Fünf-Phasen-Modell der Trauer, beschreibt eine Abfolge von Emotionen, die Menschen im Umgang mit dem Tod erleben – sei es, weil sie unheilbar krank sind oder weil sie einen nahestehenden Menschen verloren haben. Angefangen mit Verleugnung, erklärt das Modell den Weg durch jede der folgenden Phasen: Zorn, Verhandlung, Depression und Akzeptanz.

Ein ähnlicher emotionaler Prozess lässt sich meiner Meinung nach mit einigen Anpassungen auch bei Kapitalmarktkrisen beobachten. Das gilt auch für die aktuelle Krise, in der wir uns in der Phase der Depression befinden, wie ich glaube. Schauen wir uns die Phasen in ihrer Folge einmal genauer an.

Leugnung
Im Nachhinein ist klar, dass wir uns länger in der Phase der Verleugnung befanden. Im Sommer 2019 hat sich die US-Zinsstrukturkurve ins Negative gedreht, der Spread zwischen zehnjährigen US-Treasuries und Drei-Monats-Treasury-Bills betrug minus 50 Basispunkte. Folgt man der Methode der Notenbank des Staates New York zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit einer Rezession in den folgenden zwölf Monaten, so deutete das auf einen Wert von 30% für Februar 2020 hin. Das mag nicht hoch erscheinen. Doch auf einem derartigen Level war die Wahrscheinlichkeit in den vergangenen 30 Jahren zuletzt zu Beginn der Rezession im Jahr 2000 und kurz vor Ausbruch der Finanzkrise 2008.

Zwar hat der Rentenmarkt die Corona-Krise nicht vorausgesagt, doch hat er Warnzeichen gesendet, dass unschöne Marktentwicklungen bevorstehen könnten. Wichtiger noch erscheint allerdings, dass der Westen auch dann noch im Zustand der Leugnung verharrte, als das Virus in China längst wütete. Wir haben zugesehen, wie China die Provinz Hubei in Quarantäne geschickt, die Hauptstadt Wuhan abgeriegelt und jede Woche ein neues Krankenhaus gebaut hat. Wir dachten, das Coronavirus wäre bloß eine hochgespielte Grippewelle. Um die Krise wirklich zu verstehen, mussten wir sie mit unseren eigenen Augen sehen, erst in Europa, dann in den USA. Erst dann konnten wir aufhören, sie zu leugnen.

Zorn
Bärenmärkte beginnen typischerweise mit einem drastischen Fall der Preise für Risikoanlagen – Panik oder Angst sind hier möglicherweise die treffenderen Begriffe als Zorn. Wenn die Zuversicht verloren ist, schlägt die Stimmung um, Investoren stoßen risikobehaftete Anlagen ab und wenden sich konservativen Investments zu. Die Liquidität schwindet, was die Sache nur schlimmer macht.

Am 20. Februar dieses Jahres startete dieses Szenario. Bis zum 24. März sackte der MSCI All Country World Index (ACWI) um 33% ab, globale High-Yield-Indizes verloren mehr als 20%. Gleichzeitig markierten erstklassige Staatsanleihen, etwa aus den USA, Deutschland und Großbritannien, neue historische Tiefststände; Währungen wie US-Dollar und Yen, die als sichere Häfen gelten, werteten auf.

In den USA rutschte der S&P 500 derweil so schnell wie nie zuvor in den Bärenmarkt-Modus – möglicherweise wegen des überraschenden Schocks durch Corona, vielleicht weil er von bisherigen Allzeithochs ausging, oder aber auch, weil automatisierte Handelssysteme den Ausverkauf noch beschleunigt haben. In der Phase des Ärgers preisen die Märkte gern Finsternis und Untergang ein. Diese anfängliche Gloom-and-Doom-Phase liegt nun hinter uns.

Verhandlung
In einer Krise hat die Verhandlung zweierlei Bedeutung. Zunächst geht es darum, einen angemessenen Umgang mit ihr zu entwickeln. Im Falle des Coronavirus haben die Zentralbanken schnell mit einem beispiellosen geldpolitischen Stimulus auf die Krise reagiert und damit verhindert, dass die Situation sich zur veritablen Finanzkrise ausweitet. Die Regierungen sind mit einem ebenfalls beispiellosen fiskalpolitischen Stimulus und zahlreichen Programmen gefolgt, um Individuen, Unternehmen und die Gesamtwirtschaft zu stützen. Hinzu kamen Maßnahmen auf gesundheitlicher Ebene, um die Corona-Krise einzudämmen: Reisebeschränkungen, Lock-downs und Social Distancing. Dieses Vorgehen der politischen Entscheidungsträger hat die Marktteilnehmer dazu bewegt, sich auf wahrscheinliche Zukunftsszenarios zu besinnen, statt den nahenden Untergang einzupreisen.

Die andere Form der Verhandlung zeigt sich in Form einer Marktkapitulation. Sind all diejenigen geflohen, die in Panik geraten sind, bleiben drei grobe Kategorien von Investoren: solche, die es für eine falsche Entscheidung halten, jetzt zu verkaufen, weil sie damit nur Verluste festschreiben; solche, die das aktuelle Kursniveau für attraktiv halten und einsteigen, weil sie eine Erholung erwarten; und solche, die Verluste erlitten haben und jetzt hinzukaufen, um von einer möglichen Erholung überproportional zu profitieren.

Typischerweise folgt daher in Bärenmärkten auf den anfänglichen Ausverkauf eine Rally. So auch dieses Mal: In der Woche vom 23. bis 27. März erzielte der ACWI sein größtes Plus seit 2008, und bis zum 20. April stieg er vom Tiefpunkt aus um mehr als 25%. So beispiellos schnell und steil es anfangs bergab ging, verlief auch die Erholung. Noch ist nicht klar, ob der 23. März tatsächlich den Tiefpunkt markiert oder wir nur eine kurze Gegenbewegung erleben. Während früherer Bärenmärkte sind die Märkte nach dem ersten Ausverkauf häufig zurückgekommen, nur um anschließend neuerlich die Tiefs zu testen.

Depression
Depression ist ein unheilvolles Wort an den Finanzmärkten. Allerdings ist unwahrscheinlich, dass die Märkte wegen des Coronavirus in eine wirtschaftliche Depression rutschen. Vielmehr bezieht sich die Phase der Depression auf die Anpassung der Kursniveaus an eine neue Realität. Genau dort befinden wir uns: Die Kurse spiegeln bereits eine scharfe Rezession im ersten Halbjahr 2020 wider, mit einer möglichen ebenso schnellen oder aber verhaltenen Erholung in der zweiten Jahreshälfte, die vor allem auf die entschlossenen Maßnahmen der Politik zurückzuführen ist.

Die Frage, die sich nun stellt, ist: Wie wahrscheinlich sind weitere negative oder positive Überraschungen? Angesichts sehr vieler Unbekannter fällt eine Antwort schwer. Geld- und fiskalpolitischer Stimulus erscheinen ausreichend hoch, um die Krise zu überbrücken und die nächste Wachstumsphase mit entsprechend steigenden Kursen einzuläuten. Doch braucht es parallel eine glaubwürdige Gesundheitsstrategie, bevor Arbeiter und Konsumenten sicher zu normaler Aktivität zurückkehren können. Bis dahin könnten die Aktienmärkte sich schwertun, einen Boden zu finden.

So gab es beim S&P 500 seit 1987 bis zum 20. April dieses Jahres 315 Tage, an denen extreme Tagesausschläge von mehr als 2,5% zu beobachten waren – das entspricht 3,8% aller Handelstage. Allein seit dem 20. Februar zeigte der Index 26 solcher Tage, das entspricht einem Anteil von über 60%. Die Häufigkeit extremer Ausschläge spricht klar dafür, dass sich der Aktienmarkt weiterhin in der Phase der Depression befindet.

Akzeptanz
Die Phase der Akzeptanz ist die Erholung, in der die Kurse das Ende der Krise reflektieren. Dafür muss die Krise nicht tatsächlich enden, aber es bedarf klarer Anzeichen für ein bevorstehendes Ende. Wenn wir sehen, dass sich die Infektionsraten verringern und sich ein Ende von Lockdowns und Social Distancing andeutet, werden die Märkte die neue Normalität akzeptieren und – wie bislang noch nach jeder Krise – neue Höhen erklimmen. Noch ist diese Phase nicht erreicht. Vielleicht wird es noch ein paar Wochen dauern, vielleicht einige Monate. Eines ist aber sicher: Die Phase der Akzeptanz wird kommen.

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*) Yoram Lustig ist Head of Multi-Asset Solutions, EMEA, bei T. Rowe Price