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Gastbeitrag: Indiens Erfolgsgeheimnisse

In den vergangenen zwei Jahren stammte die Hälfte des weltweiten Wirtschaftswachstums aus den Schwellenländern. Während China nichts dazu beitrug, hatte Indien mit 16% den größten Anteil. Was ist das Erfolgsgeheimnis des Landes? Nach meinem jüngsten Besuch vor Ort sehe ich einige Gründe.

Polina Kurdyavko

Demografie und Lage
Der erste ist die Demografie. Indien ist das bevölkerungsreichste Land der Welt und beheimatet ein Sechstel der gesamten Weltbevölkerung. Während der Rest der Welt unter Arbeitskräftemangel leidet, profitiert es von einer starken demografischen Dividende: 70% der Bevölkerung sind erwerbstätig und die Arbeitskosten sind niedriger als in China. Dadurch konnte Indien Ländern, die in letzter Zeit mit Arbeitskräftemangel zu kämpfen hatten, Lösungen bieten: Es weitete seine Produktion aus, um die Lieferketten und Arbeitskräftelücken zu schließen.

Der zweite Grund ist die Lage des Landes und die Nähe zum Nahen Osten. Der Flug von Mumbai nach Abu Dhabi ist kürzer als der von Mumbai nach Delhi. Das macht Indien für die Region zu einem attraktiven Zielmarkt. Dies und die verbesserten Beziehungen zu Ländern wie Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten und Israel, um nur einige zu nennen, haben Indien zu einer neuen Macht im Nahen Osten gemacht.

Alternative zu China
Der dritte Grund ist der Niedergang Chinas, der Indien zugutekommt. Indien hat von den geopolitischen Spannungen zwischen China und dem Westen profitiert, da es ein alternatives Investitionsziel bietet. China wird statt einer strukturellen zu einer eher taktischen Allokation für die Portfolioströme der Anleger und Direktinvestitionen siedeln sich jenseits der Grenze an: Unternehmen und Produktionsstätten werden immer mehr nach Indien verlagert. Internationale Marken verstärken ihre Präsenz. Apple beispielsweise eröffnete Anfang des Jahres einen ersten Laden in Mumbai, weitere werden folgen. Geopolitisch ist es dem Land gelungen, inmitten globaler Konflikte erfolgreich zu navigieren, seine Neutralität weitgehend zu wahren und eine relative politische Stabilität zu erhalten.

Fokus Infrastruktur
Der vierte Punkt ist Indiens Fokus auf die Infrastruktur. Die Regierung hat die jährlichen Haushaltsausgaben für den Sektor in den vergangenen vier Jahren auf 3% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) verdreifacht. Die Zahl der Autobahnen hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt und auch die Eisenbahn- und Schifffahrtsnetze haben von Investitionen profitiert. Gemessen an der Wirtschaftsleistung investieren mit China, Indonesien und Australien nur drei Länder stärker in die Infrastruktur als Indien. Im Vergleich dazu geben die USA nur 1,5% des BIP für Infrastrukturinvestitionen aus. Das entspricht einer Investitionslücke von 0,7%. Indien genießt außerdem einen Finanzierungsvorteil, da sein Haushaltsdefizit zu 100% lokal finanziert wird.

Neue Energie
Fünftens sind Indiens Fortschritte auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien zu nennen. Indien verfügt über die größte Solarkapazität der Welt und ist das einzige Schwellenland, das die 2022 in der Klimakonferenz COP27 formulierten Ziele erreicht hat. Bei einem jährlichen Wachstum des Strombedarfs von 8-9% fordert die Regierung von Erzeugern erneuerbarer Energien ein Hybridmodell, das sowohl Wind- als auch Solarenergie liefert, um eine ununterbrochene Energieversorgung zu gewährleisten. Indiens Kapazität an nicht-fossilen Brennstoffen hat sich in den letzten acht Jahren vervierfacht und macht nun 43% der gesamten Stromkapazität des Landes aus. Damit ist es ein gutes Beispiel für ein Land, dem es gelungen ist, sein Wirtschaftswachstum von Treibhausgasemissionen zu entkoppeln: Diese sind seit 2009 um 33% gesunken.

Nicht zuletzt konzentriert sich das Land darauf, das Umfeld für die lokalen Vermögensverwalter zu verbessern und Ausländern den Zugang zu den indischen Finanzmärkten zu erleichtern. Nach einer Reihe von Krisen in der Vergangenheit lernen die Regulierungsbehörden aus ihren Fehlern. Die von der Aufsichtsbehörde SEBI auferlegten Transparenzregeln für Vermögensverwalter sind sogar noch strenger als im Westen. Ermutigend ist auch, dass es eine Arbeitsgruppe zur Ausfertigung von Vorschriften gibt, die den Zugang zum inländischen Markt weiter vereinfachen sollen, bevor Indien im nächsten Jahr in den GBI-Index aufgenommen wird.

Mögliche Fallstricke
Was kann Indien bei so viel Rückenwind noch daran hindern, weiter Kapital anzuziehen? Eine der Herausforderungen sind die aktuellen Aktienbewertungen. Indien ist nach den USA der zweitteuerste Markt der Welt. Trotz einer im globalen Kontext nur bescheidenen Anhebung des Leitzinses der Zentralbank um 2,5 Prozentpunkte auf 6,5% nennen die Unternehmen Zinserhöhungen als eines der Hauptrisiken für ihre Wachstumsziele. Der Verschuldungsgrad ist insgesamt moderat: Die öffentliche Verschuldung im Verhältnis zum BIP liegt bei rund 80% und die private Verschuldung bei 50%. In einigen Sektoren, wie etwa bei den erneuerbaren Energien, ist der Verschuldungsgrad bei einigen Emittenten jedoch hoch. Das könnte eine Herausforderung darstellen, wenn es darum geht, künftige Wachstumsziele zu erreichen.

Inflationsdruck
Eine weitere Herausforderung ist die Inflation. Die Zentralbank verfolgt ein flexibles Inflationsziel, wobei das Wachstum eine wichtige Rolle spielt, da der Schwerpunkt weiter auf der Armutsbekämpfung liegt. Während die derzeitige Inflationsrate mit unter 5% gut unter Kontrolle ist, könnte der Appetit auf eine restriktivere Geldpolitik in Zukunft begrenzt sein, sollte sich der Trend ändern. Im Jahr 2022 beliefen sich die Ausfuhren Chinas in die USA auf 536 Mrd. US-Dollar. Indiens Exporte in die Vereinigten Staaten hatten ein Volumen von 85 Mrd. US-Dollar. Wenn die Einfuhren aus China weiter rückläufig sind, könnte die Güterinflation noch stärker unter Druck geraten. Da etwa die US-Regierung Anfang des Jahres mehr als 1.000 Lieferungen von Solarkomponenten aus China blockiert hat, dürfte die Nachfrage nach Modulen aus Indien weiter steigen. Dies hat bereits dazu geführt, dass die Kosten für Solarpaneele in diesem Jahr um 40% gestiegen sind. Bleibt der Teuerungstrend bestehen, wird der Druck der Zentralbanken weltweit, die Zinsen hoch zu halten, Indien – und andere Schwellenländer – treffen.

Diese Probleme müssen zwar weiter beobachtet werden. Es ist aber nur schwer vorstellbar, dass ein Land die strukturellen und zyklischen Herausforderungen der vergangenen Jahre besser bewältigt als Indien und – trotz zusätzlicher Belastungen im Zusammenhang mit Covid-19 und erhöhter geopolitischer Risiken – noch gestärkt daraus hervorgeht. Während der indische Rentenmarkt derzeit fair bewertet ist, betrachten wir angesichts des soliden fundamentalen Hintergrunds jede Verwerfung als Chance. Als Investoren würden wir gern mehr Länder wie Indien sehen, die sich zu künftigen Anlagezielen mausern.

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*) Polina Kurdyavko, Head of BlueBay Emerging Markets, RBC Global Asset Management