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Kommentar: Ein disruptiver Wandel unseres Gesundheitssystems ist überfällig

Alle reden vom Klimawandel, von der ökologischen Wende, vom Umbau unserer Energieversorgung. Diese Diskussion verdeckt eine ganz andere Revolution, die uns alle berührt: der grundlegende Wandel unseres Gesundheitswesens, der sich bisher eher im Stillen vollzieht.

Prof. Dr. Kai Lucks

Dabei sind die anstehenden Veränderungen unseres Gesundheitssektors nicht weniger eklatant und für jeden von uns von größter Bedeutung.

Wie auf anderen Transformationsfeldern hat Deutschland auch im Healthcare-Bereich Entwicklungen verschlafen, verzögert, Herausforderungen übersehen und Chancen ignoriert. Die Vielfalt der Beteiligten und deren divergierende Interessen verhindern, dass wir die gestellten hohen Hürden des hoch regulierten Gesundheitsmarktes überwinden. Die digitale Gesundheitskarte, an der wir nun schon seit 2001 „herumdoktern“ und gegen deren Verabschiedung immer neue Argumente vorgebracht werden, ist ein trauriges Beispiel.

In der medizinischen Technik, Pharmakologie, Gentechnik, Diagnostik und bei Therapien fanden in den vergangenen Jahrzehnten geradezu disruptive Fortschritte statt. In das öffentliche Rampenlicht geriet die Immuntechnologie durch den kometenhaften Aufstieg von BioNTech, die ein Glanzlicht auf den Forschungs- und Technologie-Standort Deutschland wirft und diesmal sogar das Eldorado vom Silicon Valley in den Schatten stellte. Weniger sichtbar in der breiten Öffentlichkeit entwickelte Deutschland eine ganze Reihe einschlägiger medizinisch-biologischer Forschungszentren, unter denen exemplarisch das „Medical Valley“ in Erlangen und das Biotech-Cluster im Großraum München mit dem Forschungszentrum für Molekulare Biosysteme in Martinsried zu nennen sind. Als erfolgreichste Gründung entwickelte sich dort die Micromet GmbH, die 2012 für 1 Mrd. Euro an Amgen ging und danach in die USA transferiert wurde. Leider ein typischer Transfer, mit der deutsche Entwicklungen an stärkere Länder abgegeben wurden.

Auch in der Medizintechnik sind wir stark. Zweitplatzierter hinter BioNTech im Wettbewerb um den größten Forschungserfolg war 2021 die Siemens Healthineers mit ihrer revolutionären Entwicklung auf dem Gebiet der Computertomographie. Ihr neuartiges Detektorprinzip beruht auf der Zählung und Analyse einzelner Röntgenquanten mit einem kristallinen Material in hochauflösender Qualität. Damit sind erstmals Feinstrukturen in HD-Qualität darstellbar, wie beispielsweise die Plaque-Bildung in Blutgefäßen. Deutschland hat sich mit dieser Technik an die Weltspitze katapultiert.

Soweit zur Forschungslandschaft. Wie sieht es aber mit den Strukturen im Gesundheitswesen aus? Diese verändern sich gegenüber dem disruptiven Fortschritt der forschenden Industrie nur zögerlich. Die stationären Versorger und die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte setzen zwar gern High-Tech-Lösungen ein, weil diese die Qualität verbessern und Arbeitsabläufe in Diagnostik und Therapie beschleunigen.

Aber bei deren Vernetzung stehen Neuzeit und Mittelalter oft nebeneinander. Immer noch werden Berichte von Hand geschrieben und immer noch kommunizieren Ärzte untereinander per Fax. Kaum besser sieht es in der Kommunikation zwischen Leistungsträgern innerhalb von Kliniken aus. Hol- und Bringdienste müssen herbeitelefoniert werden, Patienten werden von einer Wartestation zur anderen verfrachtet. Die Wartezimmer bei Ärzten sind meist voll, genauso lang sind die Warteschlangen vor den sogenannten Anwendungen in Krankenhäusern. Vor dem Corona-Hintergrund eigentlich ein Desaster.

Und nicht nur das: Wenn wir einmal einen Vergleich zwischen einer industriellen Fertigungsstruktur und den Abwicklungen im Gesundheitssektor anstellen – ich gebe zu, dass dies nicht eins-zu-eins übertragbar ist –, dann würden wir Folgendes feststellen: In einer zeitgemäßen industriellen Fertigung sind die einzelnen Anwendungsstationen trotz jeweils unterschiedlicher lokaler Steuerungssysteme dank übergeordneter Automatisierungsebenen so eng miteinander verknüpft und idealerweise so getaktet, dass Stillstands- und Wartezeiten im gesamten Prozess auf ein Minimum reduziert werden. So kann etwa ein PC mit einem Zeitaufwand von zehn Minuten durchgängig produziert werden. Die Wartezeiten vor den Fertigungsstationen machen nur einen Bruchteil der Gesamtdurchlaufzeit aus.

Ganz anders im medizinischen Bereich, wo Patienten teilweise stundenlang warten, um dann vom Arzt in fünf Minuten abgefertigt zu werden. Auch in den meisten Krankenhäusern sieht es nicht viel besser aus: weil niemand weiß, ob der obengenannte Holdienst gerade verfügbar ist, wird schon mal eine Stunde früher bestellt. und der Patient oder die Patientin darf in überdimensionierten Wartesälen oder auf den Fluren warten. Deshalb müssen etwa teure Raumkapazitäten vorgehalten werden.

Hinzu kommen weitere Mängel, die wir bekämpfen müssen. Diese liegen in der Arbeitsteilung der Institutionen und in der patientennahen Flächenversorgung. Die Bertelsmann-Stiftung schließt daraus, dass wir mit halb so vielen Krankenhäusern eine bessere und kostengünstigere Gesundheitsversorgung erreichen könnten, wenn wir Spezial- und Spitzenleistungen stärker zentralisieren würden.

Dichtmachen allein ist aber keine Lösung. Denn damit würden wir wertvolle Standorte einfach weggeben, ortsnahe Versorgungen verlieren und zeitkritische Einsätze gefährden. Der Schlüssel zur Lösung liegt ganz woanders, nämlich in der besseren Vernetzung der Leistungsträger untereinander, einer differenzierteren Arbeitsteiligkeit und Stärkung von innovativen Formen der Zusammenarbeit.

Dazu gehören etwa erweiterte Möglichkeiten der Telemedizin, wie Ferndiagnostik oder Ferntherapien. So ermöglicht etwa ein 5G-Datennetz in Verbindung mit superschnellen bildgebenden Verfahren die Fernübertragung von Bewegtbildern des schlagenden Herzens. Künstliche Intelligenz kann zur Unterstützung der Bilddiagnostik eingesetzt werden. Ferngesteuerte Robotertechnik bietet sich zum Einsatz in der Mikrochirurgie an. Vernetzt mit der Spezial- und Spitzenmedizin machen kleinere Versorgungseinheiten, die in lokaler Nähe den Patienten zur Verfügung stehen, plötzlich viel Sinn.

Stellt man die technologischen Potenziale in den Vordergrund, dann sind zum Umbau der Versorgungsstrukturen in Deutschland also andere Schlüsse zu ziehen als „dichtmachen“, sondern vielmehr „umwidmen“ und „vernetzen“. Konkret bedeutet dies: Regionalnahe stationäre Versorgungseinrichtungen sollten eher erhalten bleiben. Bestehende Krankenhäuser der unteren Versorgungsstufe sollten zu Satelliten von zentraleren Einheiten weiterentwickelt und mit denen eng verbunden werden.

Neue Investoren sondieren den Markt
Dringend nötige Veränderungen sowohl bei der stationären als auch in der ambulanten Versorgung fordern hohe Investitionen, die in der heutigen Trägerstruktur nicht mehr ohne Weiteres aufgebracht werden können. Etablierte private Großanbieter werden dies nicht ohne Weiteres übernehmen können. Sie sind auch geschwächt durch Nutzungsauflagen und finanzielle Beeinträchtigungen infolge von Corona. Somit verstärkt sich noch der Druck zum Umbau von Strukturen der Gesundheitsversorgung. Auf dem deutschen Krankenhausmarkt hatte bereits im letzten Jahrzehnt eine starke Konsolidierung stattgefunden. Diese wird weitergehen.

Die Medizintechnik ist bestrebt, dem Leistungsdruck auf die Ärzteschaft durch Verkürzung von Bedienzeiten und Verbesserung von Arbeitsqualität der Gerätschaften zu entsprechen. Die arzteigenen Potenziale zu Leistungsverbesserungen, etwa durch Arbeitsorganisation und Technologieeinsatz sind noch erheblich. So liegt der Digitalisierungsgrad bei der ambulanten Versorgung gegenüber Vergleichsgruppen der Wirtschaft weit zurück. Eine Befragung der deutschen Ärzteschaft von 2019 ergab, dass etwa die Arzt-Arzt-Kommunikation bei rund 55% der Praxen fast komplett in Papierform erfolgte. Nur 1,4% aus allen Fachgruppen antworteten, dass sie nahezu vollständig digital kommunizieren.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass heute erhebliche Verbesserungspotenziale im medizinischen Sektor nicht genutzt werden. Dies liegt nicht nur an schwach ausgeprägter Technikaffinität, sondern auch an Mängeln beim patientenorientierten Denken.

Das Dilemma kann nur durch einen großen unternehmerischen Umbau der Gesundheitsbranche gelöst werden. Neue Investoren sondieren bereits die Lage. Neuordnungen und Fusionen sind in allen Sektoren und auf allen Ebenen zu erwarten. Deutschland wird sich dabei öffnen müssen. Internationale Player werden an unsere Türen klopfen, werden auch ihre Modelle in unser Land tragen, wenn diese Vorteile versprechen. Steigende Vielfalt ist ein Lösungsmodell unserer Zeit, hin zu einem „Ökosystem Gesundheitsversorgung“.

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*) Prof. Dr. Kai Lucks ist Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Mergers & Acquisitions.