Russo: Bevor wir von der Zukunft reden, ein Blick aufs Hier und Jetzt: Schöpft die Automobilindustrie denn die bereits bestehenden Potenziale aus?
Labonte: Ja, gerade wenn man sich den „way to market“ der Branche ansieht. Wir sind bislang inkrementelle Neuerungen gewohnt gewesen. Diese Innovationen lassen sich schneller in Produkte und Services umsetzen, da sie näher am bekannten Terrain liegen. Das hat die deutsche Automobilindustrie über die Jahrzehnte in eine Führungsrolle gebracht. Der Vorstoß in neue Handlungsfelder, neben der Entwicklung und dem Vertrieb von Automobilen, braucht ein wenig länger, bis er beim Kunden sichtbar werden kann. Die Branche ist gerade dabei, eine der größten Herausforderungen zu meistern. Es begann vor Jahren mit der Serienentwicklung des E-Antriebs, der Konzeption und dem Angebot neuer Sharing-Formate, also dem Schaffen neuer Zugangsformen zum Auto. Nun stehen die nächsten Herausforderungen ins Haus: das pilotierte Fahren in Kombination mit dem sinnvollen Einsatz von künstlicher Intelligenz.
Es wird noch ein paar Jahre dauern, bis die erforderlichen Technologien und Infrastrukturen für das viel diskutierte autonome Fahren großflächig zum Einsatz kommen. Die Mentalität der zukünftigen Nutzer verändert sich zusehends. Ein Umdenken, weg vom Fahrzeugbesitz und hin zu neuen Zugangsmodellen, meist als Carsharing bekannt, hat ja in Metropolregionen längst stattgefunden.
Das gilt vor allem für die zweifellos wichtigste Entwicklung in der Mobilität: das autonome Fahren. Ideen für das „gefahren werden“, dessen Einbindung in den Alltag, die dafür notwendigen Technologien und entsprechende Geschäftsmodelle sind längst konzipiert, respektive entstehen derzeit. Es ist nun an der Zeit, dies auf die Straßen zu bringen. Die Hinderungsgründe sind nicht allein technischer Natur. Viele rechtliche Aspekte spielen dort hinein. Beispielsweise die Frage, wer die Verantwortung für ein autonomes Fahrzeug trägt und was bei einem Schadensfall geschieht. Eine wichtige, aber lösbare Problematik. Datenerhebungen sind ein anderes Beispiel: Smartphones erzeugen ständig Standortdaten. Für die Automobilforschung wäre es sehr reizvoll, diese Daten auszuwerten, um zu sehen, zu welchem Zeitpunkt welche Straßen wie stark frequentiert werden. Hierbei sind aber vor allem rechtliche Hindernisse das Problem. Wenn das in Echtzeit passiert, dann können in Zukunft Verkehrsströme so gelenkt werden, dass Staus verhindert oder auf das unvermeidliche Maß reduziert werden.
Russo: Welche neuen Trends werden die Mobilität in naher bis mittlerer Zukunft prägen?
Labonte: Lassen Sie mich antworten, indem ich Sie durch ein Geschäftsessen der Zukunft führe: Auf dem Weg vom Büro aus wählen Sie am Smartphone Ihren Kontakt aus. Per Knopfdruck ermittelt ein Satellit Ihren Standort, und es wird eine Route berechnet, die das Fahrzeug automatisch einschlägt. Auf dem Hinweg scrollen Sie digital durch die Speisekarte, und wenn Sie ankommen, sind Wein und Essen bereits bestellt. Oder stellen Sie sich vor, Ihre Tochter ist noch nicht volljährig und verbringt den Abend bei Freunden. Anstatt nachts am Bahnhof warten zu müssen, könnte sie einfach per App den Familienwagen rufen, der sie wohlbehütet abholt und nach Hause bringt.
Das kann eine mögliche, konkrete Folge sein, die hinter abstrakten Begriffen wie Digitalisierung, multimediale Vernetzung oder Mobilitätsentwicklung steckt. Denn es gilt, hinter die Schlagwörter zu sehen, die Trends zu veranschaulichen, und dann schließlich in Form eines konkreten Konzepts auf die Straße zu bringen. Außerdem muss unterschieden werden: Was sind realistische, will sagen umsetzbare Zukunftsvisionen, und was ist pure Science-Fiction? Fest steht, dass die Reisezeit im Fahrzeug zukünftig völlig anders genutzt werden kann – egal ob man schlafen, essen, shoppen oder sich bilden möchte. Das Fahrzeug wird dadurch stärker zum Teil der Privatsphäre. Ein Stück persönlichen Lebensraums sozusagen, wie wir ihn aus der eigenen Wohnung kennen. In diesem Zusammenhang ist es essenziell, den Kunden und die Kundenerfahrung als Ausgangspunkt zu nehmen. Auf seine Bedürfnisse einzugehen und sie umzusetzen. In diesem Zusammenhang ändert sich auch das automobile Markenerlebnis. Wenn sozialer Status ‒ egal in welcher Form, das kann der Geschäftswagen oder das getunte, individualisierte Sportauto sein ‒ kein wesentlicher Aspekt des Autos mehr ist, dann ist die erlebbare Kundenerfahrung das Maß aller Dinge, und die Markenwahrnehmung verschiebt sich zunehmend in die digitale Welt. Wer weiß, wie man das Bedürfnis nach Mobilität möglichst komfortabel und flexibel gestaltet, der hat in Zukunft die besten Karten. Dafür muss man seine Kunden sehr gut kennen.
Das bedeutet, die Daten der Kunden zu sammeln, Nutzerprofile zu erstellen und auszuwerten ‒ mit dem Ziel, den Kunden Hilfestellungen in Form von Services und generell Mehrwerte anbieten zu können. Wenn man sich dann an Bord eines selbstfahrenden Fahrzeugs befindet und Zeit quasi geschenkt bekommt, kann diese individuell unterschiedlich und auf neue Weise genutzt werden. So entstehen neue Geschäftsmodelle mit Erfolgspotenzial. An der Vernetzung der Autos wird gearbeitet, schon heute könnten Staus prognostiziert und individuell umfahren werden, auch vor Wetterphänomenen wie Glatteis auf der Strecke kann gewarnt werden. Nicht alles, woran man heute denkt, wird realisiert werden, ob der Kunde wirklich während der Fahrt ein leichtes Fitnessprogramm absolvieren möchte oder seine Urlaubsreise im Auto bucht, das ist ungewiss. Aber es geht um das Nachdenken über die wirklichen Bedürfnisse und daraus ein Produkt- und oder Serviceangebot zu erstellen.
Russo: Was verändert sich zuerst? Das Auto der Zukunft oder die Städte und Regionen, in denen es fahren wird?
Labonte: Besonders der rasante Zuzug ist eine der größten Herausforderungen für die Metropolen. Bis 2025 werden rund 630 Millionen Menschen in sogenannten Megacitys leben. Wohin das führen kann, zeigen uns schon heute chinesische Großstädte: überlastete Verkehrsknotenpunkte, Luftverschmutzung, Probleme mit der Parksituation. Dies wirkt sich massiv auf die Lebensqualität der Anwohner aus. Die Städte weltweit reagieren darauf mit regulatorischen Maßnahmen. Deshalb ist davon auszugehen, dass in urbanen Räumen sich der Automobilverkehr bis 2030 um rund dreißig Prozent reduzieren wird. Ich glaube, einer der grundlegenden Unterschiede zwischen der Mobilität im vergangenen und der im neuen Jahrhundert ist, dass der Besitz der Verkehrsmittel in den Hintergrund tritt. Heute gilt es, Zugang zu allen Formen von Mobilität zu schaffen – Trends wie hochwertige Formen des Carsharings oder neue Unternehmensideen wie Uber zeigen das sehr deutlich. Diese neuen Verkehrs- und Nutzungsbedingungen erfordern wiederum innovative Fahrzeugkonzepte. Schon heute kann ich mein Fahrzeug mit anderen Personen teilen. In den USA ist das Verleihen des eigenen Autos sehr verbreitet und als Geschäftsmodel erfolgreich. In Europa fällt es uns schwerer, möglichen Interessenten unser Auto zu überlassen. Vermutlich sind wir sensibler hinsichtlich der Verschmutzung, Beschädigung und Sorgfalt im Umgang. Wichtig ist auch die Entwicklung von Mobilitäts-Hubs zu ausgebauten digitalen Knotenpunkten. Innerhalb einer Reise muss es das Ziel sein, den Wechsel zwischen den Verkehrsträgern (Auto, Flugzeug, Bahn, letzter Kilometer) möglichst schnell, angenehm und barrierefrei zu ermöglichen. Für Geschäftsreisende wäre dies ein echter Vorteil. Häufig kosten die letzten Kilometer zum Reiseziel in Ballungsgebieten enorm viel Zeit. Wer automatisch zu einem Bahnhof gefahren wird und dort nahtlos in den Nahverkehrszug einsteigt, ist klar im Vorteil. Selbstverständlich ist die Fahrkarte schon gebucht worden und auf dem Smartphone gespeichert. Es regnet? Dann wird für die letzte Wegstrecke ein selbstfahrendes Taxi gebucht. Sollte man sich prognostiziert doch verspäten, wird der Geschäftspartner automatisch informiert.
Auch der Lieferverkehr lässt sich optimierten. Zum Beispiel könnte das bestehende U-Bahn-Netzwerk für den innerstädtischen Lieferverkehr erschlossen werden. Dann bräuchten wir eine Art unterirdischen Güterzug, der zwischen den Pendeltakten der U-Bahn oder des Nachts unterwegs wäre, und ein autonomes Kleinfahrzeug, das die Ware von diesem Zug direkt zum Kunden liefert. Das funktioniert für Geschäfte in der Innenstadt oder eben für Privatpersonen. Dort wird das Paket dann per Code in den Paketbriefkasten gestellt.
Russo: Wie stark werden die Städte zukünftig von den neuen Entwicklungen profitieren?
Labonte: Sehr stark. Der städtische Raum wird sich immer den Bedürfnissen der Bewohner anpassen. Durch die digitale Revolution werden neue Handlungs- und Erfahrungsräume entstehen. Vor allem exzellent vernetzte Ballungsräume können eine Renaissance als Lebens- und Kulturform erfahren. Durch geräuschlose und emissionsneutrale Fahrzeuge wird die Lebensqualität der Anwohner nachhaltig aufgewertet. Wenn der Individualverkehr limitiert ist und die Fahrzeuge durch das autonome Fahren durchgehend in Bewegung sind, können beispielsweise Parkhäuser und Parkplätze als Grünflächen revitalisiert werden, Tiefgaragen werden nicht mehr benötigt – es käme zu einer Umnutzung. Das Leben nahe von Verkehrsknotenpunkten wird zum Lagevorteil ‒ aus heutiger Sicht kaum vorstellbar. Aber auch Shopping-Center könnten tiefer in die Innenstädte vorrücken. Für den Logistikverkehr würden die von mir genannten alternativen Beförderungsmethoden dafür sorgen, dass der von Anwohnern oft als Belastung empfundene Schwerlastverkehr dann komplett aus den Innenstädten verbannt würde.
Russo: Was kann die Immobilienwelt von den Umbrüchen in der Automobilbranche lernen?
Labonte: Da gibt es glaube ich einige Aspekte. Zuallererst einmal das zukunftsgewandte Denken bei der Projektentwicklung. Wenn man berücksichtigt, dass der gesamte Entstehungsprozess eines Fahrzeugtyps knapp vier Jahre vom Projektstart bis zum ersten fertigen Exemplar dauert, kann man längerfristige Trends einfacher antizipieren im Gegensatz zu kurzlebigeren Modeerscheinungen. Denn nach den vier Jahren der Entwicklung ist es noch einmal sechs bis acht Jahre im Markt und muss für diesen Zeitraum ästhetisch funktionieren. Für die Immobilienbranche ist das mindestens genauso wichtig, denn der Lebenszyklus eines Gebäudes ist erheblich länger als der eines Fahrzeugs. Nehmen Sie beispielsweise eine Wohnimmobilie im hochdichten, städtischen Raum, die aus irgendeinem Grund nicht mit Ladesäulen für E-Autos nachgerüstet werden kann. Während das heute noch keine große Rolle spielt, wird die Situation in zehn Jahren ganz anders aussehen.
Welche Bedeutung werden in zwanzig Jahren noch Tiefgaragen haben? Wie kann eine Zweitnutzung aussehen? Brauchen Bürotürme oder Wohnhochhäuser bald wieder eine Auffahrt, um die Passagiere aus den selbstfahrenden Autos aussteigen und entladen zu lassen? Es ist wichtig, weiterzudenken und die Kundenbedürfnisse zu erfassen. Was ich meine, kann ich am Bespiel der Aufzughersteller erläutern. Ein Aufzug ist Teil der Gebäudetechnik, der eine einfache, aber wichtige Funktion erfüllt. Es geht heute nur noch um den Preis. Die Weiterentwicklung würde darin bestehen, den Aufzug in ein Infrastrukturmanagement der Immobilie einzubinden und dieses anzubieten. Wie kommen möglichst viele Menschen effizient innerhalb eines Gebäudekomplexes von A nach B. Dazu benötigen Sie Wissen in Logistik, Architektur, IT und Verhaltenspsychologie. Und das als Dauerauftrag, weil Mieter, Gebäudezweck und nicht zuletzt die Menschen sich ändern. Ich bin kein Spezialist für Immobilien, aber die Datenerhebung muss meiner Meinung nach auch für die Immobilienwelt stärker in den Fokus rücken. Schließlich stehen dort die Mieter und Eigentümer genauso im Mittelpunkt wie die Fahrzeugnutzer in der Automobilindustrie. Die wichtigste Ressource ist daher das Wissen über den Mieter oder potenziellen Eigentümer und seine immer schneller wechselnden Wünsche. Um dies analysieren zu können, müssen die notwendigen Prozesse innerhalb des Unternehmens etabliert werden. Vereinfacht ausgedrückt, die IT-Bereiche planen in Zukunft die Nutzung und Eigenschaften der Gebäude mit.
Russo: Sollten die Automobilindustrie und die Immobilienbranche stärker zusammenarbeiten, wenn es um die Frage nach den Räumen geht? Sprich, die Verbindung des festen Lebensraums einer Wohnung mit den mobilen Verkehrszonen?
Labonte: Definitiv. Wir beobachten ohnehin eine sehr enge Verzahnung von Immobilienmarkt und Mobilität. In hochverdichteten Metropolen beeinflussen Verkehrsachsen und die Knotenpunkte des öffentlichen Personennahverkehrs das Gesicht der Stadt maßgeblich. Eine Mobilitätsanalyse kann Investoren Anlagesicherheit geben: Welche Stadtgebiete erreiche ich innerhalb von 30 Minuten ausgehend von der jeweiligen Immobilie? Im Grunde machen potenzielle Mieter oder Privatkäufer nichts anderes – sie fragen sich, wie schnell sie von der jeweiligen Wohnung aus zur Arbeit, zum Bahnhof und zum Naherholungsgebiet kommen. Somit entscheidet auch der Verkehr, wo sich die Immobilienkaufpreise positiv und wo sie sich negativ entwickeln werden. Zukünftig wird die Symbiose noch stärker ausgeprägt sein. Denn der bauliche Schritt in die Vertikale wird immer wichtiger. Die Städte werden im Grunde nur in die Höhe wachsen können, wenn sie konsequent nachverdichten wollen. Trotzdem müssen die Wohneinheiten bequem und auf kurzem Weg erreichbar sein. Das bedeutet für den Personen- und Logistikverkehr, dass der Luftraum zwangsweise zum Verkehrsraum wird. Fast wie im Film „Minority Report“, wo die selbstfahrenden Autos an den Wohneinheiten der Hochhäuser andocken. Wenn diese Fahrzeuge von mehreren Parteien geteilt werden und zudem die Privatsphäre eines Rückzugsortes bieten, würde eine Brücke zwischen Verkehr und Immobilie geschlagen werden. Das ist ein Aspekt, der sehr nach Science-Fiction klingt, aber eines Tages Realität werden könnte, wenn es der Verbesserung der Lebensqualität dient.
Russo: Welche weiteren Entwicklungen wird die Zukunft langfristig bringen? Können und wollen Sie einen Blick auf die nächsten 50 Jahre wagen?
Labonte: Belastbare Prognosen über eine so ferne Zukunft sind eine schwierige Angelegenheit. Man beachte nur einmal, wie man sich vor 50 Jahren die heutige Zeit vorgestellt hat. Dennoch werden einige Entwicklungen, an denen bereits jetzt gearbeitet wird, perfektioniert sein. Ein Beispiel dafür ist die Zero-Emission-Mobility, also der völlig emissionsfreie Personen- und Warenverkehr. Bereits jetzt kann die Feinstaubbelastung durch Elektromobilität stark verringert werden, dennoch verursacht auch die konventionelle Stromerzeugung für das elektrische Fahren gegenwärtig einen gewissen CO2-Ausstoß pro Kilometer. Regenerative Energien werden dieses Problem zukünftig eindämmen können. Genauso wird die Vernetzung in einigen Jahrzehnten derart umfassend sein, dass Teile der jetzigen analogen Lebenswelt in virtuelle Welten verlegt werden. Was wir bereits jetzt bei Kunstsammlungen von Museen erleben, die per Virtual-Reality zugänglich sind, könnte genauso für Schulen gelten, aber auch für Erlebnisorte wie den Mount Everest oder die Nordschleife des Nürburgrings. Die Menschen verreisen quasi vom Wohnzimmer aus. Das impliziert natürlich weitere entscheidende Veränderungen im Bereich Mobilität. Ob sich das virtuelle vom echten Erlebnis auf das Verkehrsaufkommen auswirken wird, bleibt allerdings abzuwarten. Es wird in jedem Fall ganz viel in Bewegung kommen und bleiben.
Russo: Vielen Dank für das Gespräch.