Bietet der Konjunkturzyklus mit einer Standarddauer von vier Jahren die richtige Perspektive, um die langfristige Preisdynamik zu antizipieren? Jerome Powell, Präsident der US-Notenbank, erklärte 2021, dass die Inflation (die er nicht kommen sah) nur vorübergehend sein würde. Die durch Covid und die damit verbundenen Lockdowns verursachten Unterbrechungen der Produktionsketten, die durch die Energieversorgungsengpässe im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine noch verschärft wurden, würden sich wieder auflösen und der Wirtschaft ermöglichen, schnell zu ihrer heiligen 2%-Inflationsrate zurückzukehren. In Wirklichkeit hielt die „vorübergehende” Inflation an und erreichte fast 10%. Als sich die US-Inflation im vergangenen Sommer wieder ihrem Ziel näherte, bekräftigte Powell seine Analyse für 2021-2022, ohne auch nur mit einem Wort auf die Auswirkungen strukturellerer Kräfte einzugehen. Zum jetzigen Zeitpunkt hat er zwar Anspruch auf den Vertrauensvorschuss, aber haben wir nicht auch das Recht zu glauben, dass vier Jahrzehnte der Deflation eine (zu?) starke Überzeugung geschaffen haben, dass die Wirtschaft und die Zentralbanker in der Lage sind, dauerhaft ein angemessenes Wachstum ohne Inflation zu erzielen? Wie dem auch sei, diejenigen, die sich bei ihren Inflationsprognosen auf den kurzfristigen Konjunkturzyklus stützen, sind umso überzeugter von ihrer These: Die von den Vereinigten Staaten beschlossenen Zölle werden dazu führen, dass Produkte, die in den USA keinen Absatz mehr finden, zu Schleuderpreisen anderswo verkauft werden müssen. Hinzu kommen ihrer Meinung nach die deflationären Auswirkungen der künstlichen Intelligenz, die sich durch massive Entlassungen bald bemerkbar machen werden, sodass sie zu dem Schluss kommen, dass Inflation kein Thema mehr ist.
Dieser Ansatz hat natürlich seine Berechtigung und darf keinesfalls einfach vom Tisch gewischt werden. Aber diese Art der Analyse, die hauptsächlich auf kurzfristigen Faktoren basiert, ist selten geeignet, um die künftige Inflationsentwicklung vorherzusagen. Alan Greenspan selbst, der „Maestro”, Vater des modernen Zentralbankwesens, lieferte Mitte der 1990er Jahre ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Er sprach damals von einem „Conundrum” – einem Rätsel –, um sein Unverständnis gegenüber der Inflation und den sehr niedrigen Zinsen zum Ausdruck zu bringen. Er hatte in seiner Analyse die strukturellen Trends „über” der Makroökonomie nicht berücksichtigt, die mit ihrem ganzen Gewicht die Inflation dämpften. Die Vernachlässigung der strukturellen Trends war der gemeinsame Fehler der beiden Zentralbanker in zwei unterschiedlichen Richtungen.
In den 1990er Jahren schlossen sich mindestens fünf große Kräfte zusammen, um die Inflation einzudämmen. Dies geschah, nachdem 1980 nach 15 Jahren aufeinanderfolgender Preisanstiege der Höhepunkt der Inflation in den Vereinigten Staaten und Europa markiert worden war. Der erste Faktor war ein starker demografischer Trend, durch den der Anteil der Sparer an der Wirtschaft der wichtigsten Länder jährlich stieg und somit das für Investitionen und Produktivitätssteigerungen verfügbare Kapital erhöht wurde. Die zweite Kraft war die friedliche und wirtschaftsfreundliche geopolitische Lage, die die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Globalisierung verstärkte. Durch die geografische Spezialisierung der Produktion wurde zudem eine Desinflation ermöglicht. Die dritte Kraft war das starke und kontinuierliche Wachstum der Energieproduktion- Dieses wurde durch sinkende Energiepreise nach zwei stagflationären Ölkrisen begünstigt und förderte so das Wirtschaftswachstum. Die vierte Kraft war eine Soziologie, die nach fünfzehn Jahren Inflation sehr auf wirtschaftliche Effizienz – und damit auf Deflation – ausgerichtet war. Die fünfte Kraft war die chinesische Alterspyramide, die die Welt mit billigen Produkten überschwemmte, die von einer jungen und überzähligen Arbeiterschaft hergestellt wurden. Diese fünf großen Trends haben die Inflation zunichte gemacht, bis die wirtschaftliche Wiedereröffnung nach Covid den inflationären Funken lieferte. Sie hat ein Feuer entfacht, das wahrscheinlich noch viele Jahre lang durch die gleichzeitige Umkehr dieser fünf Kräfte angefacht werden wird, die nun eine Demografie hervorbringen, die den Anteil der Sparer an der Bevölkerung jetzt und auf lange Sicht verringert, eine sich von allen Seiten verschärfende geopolitische Lage, die sich für eine Deflation durch den Handel immer weniger günstig erweist, Energie, die aufgrund der Energiewende und geopolitischer Spannungen teurer wird, eine Gesellschaft, die den Wert der Arbeit immer weniger schätzt, und schließlich das Fehlen eines organisierten Ersatzes für China, der Druck auf die weltweiten Löhne ausüben könnte.
Wären diese langfristigen Faktoren nicht besser geeignet als eine Analyse des kurzfristigen Konjunkturzyklus, um die Inflation mittelfristig vorherzusagen? Dies scheint umso mehr der Fall zu sein, als die Wahl Trumps eine Folge der Umkehrung struktureller Trends in der Geopolitik und im Welthandel ist, die bereits eine inflationäre Deglobalisierung erkennen lässt, die für diejenigen, die keine Vermögenswerte besitzen, nicht unbedingt unglücklich ist.
Dieser fast deterministische Ansatz zur Inflation, der sich aus langen Zyklen ergibt, auf die wir nur sehr wenig Einfluss haben, ist weder klassisch noch konsensfähig. Daher muss er sich erst noch bewähren. Seine eigene Rationalität scheint jedoch so überzeugend, dass wir ihn in unsere Überlegungen als Anleger einbeziehen sollten.
Die strukturelle Rückkehr der Inflation hätte derartige Auswirkungen auf die absolute und relative Bewertung von Vermögenswerten, dass dieser Ansatz nicht einfach vom Tisch gewischt werden kann. Bleiben wir wachsam. Lassen wir uns nicht überraschen.
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*) Frédéric Leroux, Global Manager bei Carmignac
Kommentar: Wer hat Recht in Bezug auf die Inflation?

Frédéric Leroux