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Kommentar: Stressed und Distressed Debt – Die Pandemie eröffnet Chancen

Die Weltwirtschaft gleitet zurzeit in eine beispiellose Rezession ab. Das bringt die Unternehmensbilanzen allmählich unter Druck. Schon im ersten Quartal 2020 verzeichnete die europäische Wirtschaft einen Gewinneinbruch von 25% im Vorjahresvergleich, und auch das zweite Quartal schloss sehr schwach. In diesem Umfeld werden viele europäische Unternehmen Unterstützung durch Kreditgeber, Restrukturierungslösungen oder Notfallkapital in Anspruch nehmen müssen. Gleichzeitig bieten solche Bedingungen Investoren die seltene Möglichkeit, Stressed und Distressed Debt am Sekundärmarkt zu erwerben oder am Primärmarkt Kapital zur Unternehmensrettung mit den höchsten Renditen seit Jahren zur Verfügung zu stellen.

Eric Larsson

Unter den Begriff „Stressed/Distressed Debt“ fallen Kredite oder Anleihen, deren Rendite über 12% beträgt oder deren Preis bei unter 80% des Nennwertes liegt. Anfang 2020 wies der europäische Markt für solche Schuldtitel, die von einem Zahlungsausfall bedroht sind oder bereits umstrukturiert werden müssen, ein Volumen von geschätzt etwa 60 Mrd. Euro auf. Dies schließt börsennotierte Kredite und Anleihen ein, erfasst aber keine privat oder bilateral gewährten Kredite, da für diese keine Preisinformationen für den Sekundärmarkt vorliegen. Durch die Verkaufswelle infolge der Corona-Pandemie dürfte das Marktvolumen inzwischen deutlich über 100 Mrd. Euro liegen. Besonders betroffen waren und sind davon Branchen, auf die die Pandemie direkte Auswirkungen hat, wie Öl und Gas, Freizeit, Non-Food-Einzelhandel und langlebige Konsumgüter. Defensive Sektoren wie Versorger, das Gesundheitswesen, der Lebensmitteleinzelhandel und Telekommunikation erholten sich dagegen relativ schnell.

Investoren in Stressed/Distressed Debt nutzen die Tatsache, dass viele Kreditgeber nicht über das Know-how oder das Kapital verfügen, die für das Management solcher Anlagen erforderlich sind, und daher zum Verkauf gezwungen werden. Dadurch hat der Investor die Möglichkeit, gut abgesicherte Schuldinstrumente zu sehr niedrigen Einstiegspreisen zu erwerben. Dieser Schutz besteht in Form hinterlegter Sicherheiten und wegen rechtlicher oder prozeduraler Vorteile. Im Ergebnis kann daher ein Portfolio aus vorrangig besicherten Stressed/Distressed-Krediten oder -Anleihen aktienähnliche Erträge in Verbindung mit einer hohen laufenden Cash-Rendite und begrenzten Abwärtsrisiken erzielen.

Attraktiv durch Intransparenz
In Europa gibt es bei Stressed und Distressed Debt besonders interessante Gelegenheiten. Grund dafür ist zum einen ein Flickenteppich aus lokalen Rechtsordnungen ohne gemeinsame Rahmenvorschriften zur Umstrukturierung. Darüber hinaus sind die europäischen Märkte überwiegend nicht-öffentlich, so dass sich Informationen im Vergleich zu den reiferen und transparenteren US-Kreditmärkten weniger schnell verbreiten. So entstehen Chancen für Investoren, die über einen guten Zugang zu Informationen und über Erfahrungen im Umgang mit den rechtlichen Prozessen in den verschiedenen europäischen Ländern verfügen.

Für die Analyse und Bewertung der Investments ist eine möglichst breite und tiefe Datenbasis zu High-Yield- und Kreditemittenten von zentraler Bedeutung. Wichtig ist dabei vor allem, eine Absicherung nach unten durch spezifische Anlagen oder einen kontinuierlichen Cash-flow aufzubauen. Auch bei der Analyse der rechtlichen und verfahrenstechnischen Aspekte eines Investments sollten sich Anleger viel Zeit lassen. Wer sich engagiert, hat den Prozess idealerweise bereits zu Ende gedacht und schon im Voraus ermittelt, wie sich die Wertschöpfung entwickeln dürfte und wie man aus der Anlage aussteigen könnte.

20% für Special Situations
Seit der Corona-Verkaufswelle gibt es einige Anlagechancen im Stressed-Debt-Segment, die äußerst attraktive risikobereinigte Erträge erwarten lassen. Im Bereich von Distressed Debt und Special Situations liegt das Potenzial darin, dass spezialisierte Vermögensverwalter für Unternehmen, die eine sofortige Finanzspritze und eine Rekapitalisierung ihrer Bilanz benötigen, zu einem sehr gefragten Liquiditätsanbieter werden könnten.

Anleger, die sich branchenübergreifend engagieren, können ein gut diversifiziertes Portfolio aufbauen. Als Schwerpunkt erscheinen aktuell Stressed-Debt-Anlagen sinnvoll, die bislang „nur“ ausfallgefährdet sind. Bei den stark von der Pandemie betroffenen Branchen ist noch Vorsicht geboten, denn diese bergen einige schwer einzuschätzende Unsicherheiten, etwa in Bezug auf regulatorische Änderungen, staatliche Unterstützung oder direkte Rohstoffpreisrisiken.

Die Gestaltung des Portfolios hängt letztlich davon ab, was der Fondsmanager damit erreichen will. Konzentriert er sich auf den Handel mit ausfallgefährdeten Krediten, die möglicherweise eine vorübergehende Verschlechterung ihrer Performance aufweisen, oder strebt er durch einen Umstrukturierungsprozess eine Beteiligung an einem Unternehmen an? Eine sinnvolle Allokation kann zum Beispiel ein Verhältnis von 30-50% in Stressed- und 30-50% in Distressed-Krediten sein. Somit bleiben etwa 20% für den Bereich Special Situations, zu dem unter anderem Rettungsfinanzierungen, Liquidationen und Prozessfinanzierungen zählen. Grundsätzlich geht es darum, Investitionsmöglichkeiten zu erkennen, die infolge von finanziellem Druck im Verhältnis zu ihrem fundamentalen Wert nicht angemessen bewertet sind. Neben der klassischen Unternehmensanalyse spielen in diesem Segment Wissen und Erfahrung eine große Rolle, mit denen sich Risiken richtig einschätzen und steuern lassen – zum Beispiel darüber, inwiefern rechtliche Verfahren Einfluss auf Unternehmen und ihre Stakeholder haben, während Umstrukturierungen im Gange sind oder das Risiko von Umstrukturierungsprozessen besteht.

Zur Absicherung der Engagements nach unten sind robuste Fundamentalfaktoren wie etwa solide Cashflows wichtig, aber auch die Konzentration auf erstklassige vorrangig besicherte Schuldtitel aus Jurisdiktionen mit starken Kreditgeberrechten, somit überwiegend aus West- und Nordeuropa. Die Begrenzung des Portfolios auf eine Anzahl von 25 bis 30 Positionen erlaubt es, die Entwicklung jeder einzelnen Investition genauestens zu verfolgen und regelmäßig mit der Unternehmensführung im Kontakt zu stehen.

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*) Eric Larsson ist Portfoliomanager Special Situations bei Alcentra, einer Gesellschaft von BNY Mellon Investment Management.