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Inflation: Für welche Schwellenländer ist die Gefahr am größten?

Wenn auch ausgehend von einem niedrigen Niveau, war gemessen an den Verbraucherpreisindizes (VPIs) in den letzten neun Monaten weltweit ein starker Anstieg der Inflation zu verzeichnen. Diese Entwicklung ist besonders ausgeprägt in den Industrieländern, die in letzter Zeit eine so hohe Teuerungsrate erlebt haben wie auf dem Höhepunkt des Ölpreisanstiegs 2008. Insbesondere die USA erleben eine Inflation auf einem Hoch von mehreren Jahrzehnten. Die VPI-Inflation in den Vereinigten Staaten lag im Oktober 2021 bei 5,3%. Im Gegensatz dazu ist der jüngste Anstieg in den Schwellenländern (EM) zwar ausgeprägt, liegt aber noch immer unter dem Schnitt, der für den Großteil der zehn Jahre bis 2017 galt.

Guido Giammattei

Generell ist der Hauptgrund für diesen Inflationsanstieg eine starke, aber ungleichmäßige Erholung der Nachfrage, die eine Neuordnung der Lieferketten erfordert. Das Wort „ungleichmäßig“ ist hier entscheidend: Die globale Pandemie hat zu einer noch nie dagewesenen Ausgabenumstellung geführt. Social distancing und Lockdowns machten es unmöglich, bestimmte Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, wie etwa Reisen, Kino- oder Restaurantbesuche. Doch die Ausgaben dafür wurden auf Waren umgelenkt, insbesondere auf solche, die man braucht, um von zu Hause aus zu arbeiten. Gekauft wurden also vor allem Elektronik, aber auch Haushaltsgeräte, Autos und Kleidung. Der Anteil langlebiger Güter war im Warenkorb des Verbraucherpreisindex in den USA vor Covid-19 jahrzehntelang eine deflationäre Kraft. Doch genau diese Güter verzeichnen nun einen außerordentlichen Preisanstieg. Daher liegt die Inflation bei den Dienstleistungen deutlich unter dem Trend, während die Wareninflation weit über dem Trend liegt.

Dieser starke Anstieg der Warennachfrage führte auch zu anderen Herausforderungen. Dazu gehören die Verknappung von Containern und steigende Transportkosten. Die Versandkosten sind in den letzten 12 Monaten um das Fünffache gestiegen, was den Inflationsdruck weiter verschärft. Hinzu kommt, dass die Lieferketten in der Regel wenig Spielraum aufweisen: Es ist sehr schwierig, eine Lieferkette reibungslos wieder in Gang zu bringen, da schon ein einziges fehlendes Teil alles andere zum Stillstand bringt. Sie sind daher nicht für die Art von Stop-and-Go-Nachfrage ausgelegt, wie sie in der Pandemie aufkam und weiter auftritt. Als die Unternehmen merkten, dass die Lieferketten Probleme machen, begannen sie, früher und in größerem Umfang als üblich zu bestellen, wodurch sich die Wartezeit verlängerte und ein Teufelskreis aus Knappheit und Inflation entstand.

Hinzu kommt: Auch die Energiepreise sind stark angestiegen. Der Ölmarkt hat sich zu einem gesteuerten Angebotsmarkt entwickelt. Aber es ist eindeutig ein schwieriger Prozess, Angebot und Nachfrage zu kalibrieren, wenn es zu großen, unerwarteten Schocks kommt wie in der Pandemie.

Wie reagieren die Schwellenländer, wenn die Inflation weiter steigt?
Die Beschreibung oben erklärt, wie die Inflation diesen Punkt erreicht hat. Aber sie klärt nicht, ob die Teuerungsrate noch weiter steigt. Dies ist keine einfache Frage. Die größte Gefahr ist ein anhaltender Anstieg der Inflation, unabhängig vom Wachstum. Statt eine explizite Prognose dazu abzugeben, untersuchen wir bei RBC GAM daher Anfälligkeit und mögliche Folgen für die Schwellenländer, sofern der Inflationsdruck auch in den nächsten Jahren anhält.

Ein guter Ausgangspunkt für diese Analyse ist ein Blick zurück: Der Zeitraum von 2009 bis 2012 weist viele Ähnlichkeiten mit der aktuellen Situation auf. Die aufstrebenden Volkswirtschaften erholten sich von einem erheblichen Konjunkturrückgang nach der globalen Finanzkrise. Im zweiten Jahr, als sich der Aufschwung noch in der frühen bis mittleren Phase des Zyklus befand, begann der Inflationsdruck zuzunehmen. Auch im Jahr 2021 wurde die Inflation durch einen Angebotsschock, der die Energiepreise auf ein sehr hohes Niveau steigen ließ, weiter verschärft. Bei der Betrachtung dieser Zeiträume ist festzustellen, dass mehrere Faktoren für die Widerstandsfähigkeit einer Wirtschaft in längeren Phasen hoher Inflation entscheidend sind:

1. Das ursprüngliche Inflationsniveau: Es gibt eine gute und eine schlechte Inflation. Aber nicht einmal Ökonomen sind sich einig zu dem bestimmten Niveau, ab dem der Preisanstieg als schlecht bezeichnet werden kann. Es besteht jedoch Einigkeit darüber, dass der Ausgangspunkt wichtig ist. Je höher die Inflation zu Beginn ist, desto schneller der Anstieg und desto schwieriger ist es für die Zentralbanken und Regierungen, sie unter Kontrolle zu bringen, sobald sie zu steigen beginnt.

Wie Abb. 1 zeigt, ist die Inflation in den meisten asiatischen Ländern im Vergleich zu den anderen aufstrebenden Regionen derzeit niedrig. China, Taiwan und Südkorea zeichnen sich im Vergleich zu Russland, Südafrika, Brasilien und vor allem zur Türkei durch eine niedrige Inflation aus.

Abb. 1: Verbraucherpreisindizes in den Schwellenländern


Quelle: UBS, verschiedene nationale Statistikämter. (Stand der Daten: September 2021)

2. Die Produktivität: Generell gilt, je höher die Produktivität, desto geringer sind die Auswirkungen der Inflation. Wie aus Abbildung 2 hervorgeht, gehören Indien, Taiwan, Südkorea und China in dieser Hinsicht zu den besten Ländern, während Südafrika, Brasilien, Chile und Mexiko die schlechtesten sind. Das niedrige Produktivitätsniveau dieser Länder ist auf das geringe Investitionsniveau und den hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad der Arbeitskräfte zurückzuführen und ist einer der Hauptgründe für die strukturell höheren Inflationsraten. Insgesamt ist es in diesen Ländern wahrscheinlicher als in anderen, dass ein Anstieg der Inflation einen Teufelskreis aus höheren Löhnen, höheren Preisen und geringerer Produktivität in Gang setzt.

Abb. 2: Arbeitsproduktivität


Quelle: Oxford Economics (Stand der Daten: 10.2021)

3. Die finanzielle Lage: Eine höhere Inflation führt zu höheren Zinssätzen. Dies wiederum gefährdet die Tragfähigkeit einer schwachen Haushaltslage. Jeder Zinsanstieg führt zu einem Anstieg der künftigen Haushaltsdefizite, wodurch die inländischen Investitionen zurückgehen und das künftige Produktionsniveau sinkt. In dieser Hinsicht ist die Haushaltslage in den asiatischen Ländern nicht mehr so gut wie noch vor zehn Jahren. Auf regionaler Ebene weisen die lateinamerikanischen Länder im Durchschnitt die schlechteste Haushaltslage auf. Südafrika, Brasilien und die Philippinen scheinen in dieser Hinsicht am anfälligsten zu sein, während Taiwan und Südkorea weit weniger sensibel sind.

4. Die Leistungsbilanzpositionen: Eine negative Leistungsbilanz, insbesondere wenn sie durch eine überhitzte Binnenwirtschaft verursacht wird, verstärkt den Druck, den die steigende Inflation bereits auf die Währung eines Landes ausübt. Dieser Druck könnte sich in weiterer Inflation niederschlagen. Auf der anderen Seite verringert eine starke Leistungsbilanzposition dieses Risiko. In dieser Hinsicht waren Taiwan, China, Südkorea, Russland und Südafrika in den letzten 18 Monaten Nutznießer des globalen Handels. Dies hat das Währungsrisiko und damit auch den Preisdruck verringert. Lateinamerika schneidet in diesem Bereich innerhalb der Schwellenländer am schlechtesten ab.

5. Die Verbraucherverschuldung: Der Verschuldungsgrad der Verbraucher ist in Asien höher als in Lateinamerika und der Region EMEA. Allerdings gibt es zwei mildernde Faktoren:
• Der Wachstumsmix ist in Lateinamerika und EMEA stärker auf den Konsum ausgerichtet.
• Die Kosten für den Schuldendienst in Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sind in Asien (2,5% des BIP) nur halb so hoch wie in Lateinamerika (6%). Es ist wahrscheinlich, dass die Kombination aus höherer Inflation und der daraus resultierenden höheren Zinsen das verfügbare Einkommen in Lateinamerika stärker drücken wird als in Asien. Dies trifft insbesondere auf Länder wie Brasilien zu, wo Inflation und Zinssätze schnell ansteigen.

6. Die Inflationserwartung und -Erfahrungen: Einige Länder haben eine Geschichte der Hyperinflation. Dies ist wichtig, da die implizite Annahme existiert, dass Inflation erst dann zu einem Problem wird, wenn sie als Problem „erwartet“ wird. Wenn Abweichungen von einem Inflationsziel nur als vorübergehend angesehen werden, gibt es dagegen keinen Grund zur Besorgnis. Angesichts ihrer Geschichte schlägt sich ein Anstieg des Preisniveaus in einigen lateinamerikanischen und EMEA-Ländern, wie Brasilien und der Türkei, tendenziell viel schneller in den Inflationserwartungen nieder als in anderen EM-Ländern.

In Anbetracht all dieser Faktoren erwarten wir von den Schwellenländern in einer längeren Phase des Inflationsdrucks eine uneinheitliche Entwicklung. Die Länder, von denen wir annehmen, dass sie am stärksten und am wenigsten gefährdet sind, sind in den folgenden Tabellen aufgeführt.



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*) Guido Giammattei, Portfoliomanager im Emerging-Markets-Aktienteam von RBC GAM