Diese Dringlichkeit wundert nicht. So zeigt eine Studie der Ruhr Universität Bochum: Einem heute 42-jährigen Facharbeiter fehlen im Alter jeden Monat 840 Euro netto, wenn er sich nur auf die gesetzliche Rente verlässt. Geht er erst mit 70 Jahren in Rente – arbeitet also drei Jahre länger – beträgt die monatliche Rentenlücke noch immer 585 Euro. Junge Menschen müssen mit noch höheren Versorgungslücken rechnen. Durch eine längere Lebensarbeitszeit wird sich die Rentenlücke also nicht schließen lassen. Wie gelingt es uns, unser Rentensystem zukunftssicher und generationengerecht zu gestalten?
Am Produktivkapital teilhaben
Fakt ist: Mit der Stärkung der gesetzlichen Rente allein kommen wir nicht weiter. Konzentrieren sich die politischen Bemühungen nur auf die erste Säule, bedeutet das, dass Milliarden auf künftige Beitragszahler zukommen. Zahlen müssen die Jüngeren, während heutige Senioren profitieren.
Leistungsstark und generationengerecht wird unser Rentensystem in Zukunft nur dann, wenn sich die Arbeitnehmer stärker am Produktivkapital beteiligen, etwa über Fonds oder Aktien. Wichtig ist dabei der Anlagehorizont: Aktien sind für die langfristige Kapitalanlage geeignet. Kurzfristige Schwankungen sind ein ganz normaler Bestandteil der Märkte. Bei langen Laufzeiten tendiert das Verlustrisiko gegen null. Das Renditedreieck des Deutschen Aktieninstituts zeigt: Bei einer Haltedauer von 15 Jahren sind Aktienbesitzer immer im grünen Bereich.
Das Ziel muss also sein, die private und betriebliche Altersvorsorge attraktiver zu gestalten und die Renditechancen von Aktien und Fonds stärker zu nutzen. Doch nicht nur in Bezug auf die Kapitalanlage muss ein Umdenken stattfinden. Auch die Systeme müssen durchlässiger werden.
Die Arbeitswelt verändert sich. Die klassische Dreiteilung früherer Erwerbsbiografien – Ausbildung, Erwerbstätigkeit, Rente – ist nicht mehr der Normalfall. Beschäftigte nehmen sich heute Auszeiten – für die Elternzeit, für die Pflege Angehöriger oder für Auslandsaufenthalte. Zudem sind häufigere Arbeitgeberwechsel an der Tagesordnung. Die Altersvorsorge muss genauso „mobil“ werden, wie es viele Arbeitnehmer heute schon sind, und bei einem Wechsel einfach mitzunehmen sein.
Von anderen Ländern lernen
Wie das funktionieren kann, zeigen andere Länder. Wagen wir den Blick über den Tellerrand. Vorreiter sind die USA. Bereits seit den 80er-Jahren existieren dort so genannte 401(k)-Konten, die steuerlich gefördert werden. Arbeitnehmer können mit diesen Altersvorsorgekonten steuerfrei in Investmentfonds, Belegschaftsaktien oder Versicherungsprodukte investieren. Aktuell können pro Jahr bis zu 18.500 US-Dollar steuerfrei eingezahlt werden. Ein weiterer Vorteil: Wechselt der Arbeitnehmer seinen Job, kann er sein Konto behalten oder es ganz einfach auf den neuen Arbeitgeber übertragen.
Nach einem ähnlichen Prinzip funktionieren die Individual Savings Accounts (ISA) für die private Vorsorge in Großbritannien. Zinsen und Kapitalerträge bleiben in diesem Kontenmodell dauerhaft steuerfrei. Eingeführt 1999 unter der Labour-Regierung, haben sich die ISAs zu einem echten Erfolgsmodell entwickelt: Im letzten Fiskaljahr waren nach Angaben der britischen Steuerbehörde HM Revenue and Customs 62 Mrd. GBP in den Konten investiert.
Das britische Modell hat sich sogar zu einem Exportschlager entwickelt: 2014 hat Japan nach britischem Vorbild die Nippon Individual Savings Accounts (NISA) als steuerbegünstigte Wertpapierdepots entwickelt. Erklärtes Ziel ist es, durch steuerliche Anreize die Aktienkultur in Japan zu stärken.
Europäische Vorsorgekonten
Wie könnte also ein Modell für Deutschland aussehen? Nun, wir sollten uns nicht nur auf Deutschland beschränken, sondern größer denken. Die Zeit ist reif für ein Altersvorsorgekonto auf europäischer Ebene, bei dem Arbeitnehmer mit einer Vielzahl von Produkten fürs Alter sparen können. Diese Konten gewährleisten die Portabilität angesparter Vorsorgevermögen. Sie ermöglichen die problemlose Mitnahme der Ersparnisse von einem Arbeitgeber zum anderen sowie vom betrieblichen zum privaten Vorsorgekonto.
Vereinfacht gesagt geht es dabei um Folgendes: Wie in den USA oder in Großbritannien werden für die private und die betriebliche Vorsorge steuerlich begünstigte Konten geschaffen, auf denen Arbeitnehmer Fondsanteile, direkte Anlagen oder auch Versicherungspolicen halten können. Diese Konten können bis zu den gesetzlich definierten Höchstgrenzen aus dem Bruttogehalt steuer- und sozialabgabenfrei bespart und umgeschichtet werden. Die Besteuerung erfolgt nachgelagert bei Entnahme der angesparten Mittel ab Rentenbeginn. Die entsprechenden privaten Konten sind ebenfalls steuerlich begünstigt.
Die rechtliche Basis für dieses Vorsorgekonto könnte eine EU-Richtlinie bilden. Sie würde das grenzüberschreitende Angebot der Konten erleichtern und zugleich – analog zur OGAW-Richtlinie – EU-weit die Anlegersicherheit und die Marktintegrität gewährleisten. Die Mitgliedsstaaten hätten die Aufgabe, diese Richtlinie in nationale Gesetzgebung zu überführen. Das würde ihnen erlauben, Detailregelungen, beispielsweise den Beginn der Auszahlung oder die Flexibilität in der Auszahlungsphase, entsprechend ihrer nationalen Rechtslandschaft zu gestalten. Ohnehin wäre die Gestaltung wesentlicher Punkte, wie zum Beispiel die steuerliche Ausgestaltung, den einzelnen Mitgliedsstaaten vorbehalten.
Mehr Transparenz schaffen
Damit ein solches Kontenmodell langfristig gelingen kann, gilt es im ersten Schritt, mehr Transparenz in die Altersvorsorge zu bringen. Jeder Arbeitnehmer soll auf einen Blick sehen können, wie hoch seine Rentenansprüche aus der gesetzlichen Säule sowie aus der privaten und betrieblichen Vorsorge sind. Gelingen kann dies zum Beispiel mit einer einheitlichen Renteninformation, die alle drei Säulen integriert. In Schweden existiert ein solches System bereits. Für Deutschland mag das Stand heute noch wie Utopie klingen. Aber auch hier wird die Dringlichkeit erkannt. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung ist eine solche Renteninformation vereinbart. Die vollständige Transparenz über die Altersvorsorgeansprüche muss also keine Zukunftsmusik bleiben, sondern kann in den nächsten Jahren Realität werden.
Grafik: Die Zeit ist reif für ein europäisches Altersvorsorgekonto
Quelle: Fidelity International, April 2018.
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*) Christof Quiring ist Leiter Investment- und Pensionslösungen bei Fidelity International.
Kommentar: Altersvorsorgekonten für eine veränderte Arbeitswelt

Christof Quiring