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Buchbesprechung: “Terror and Consent” von Philip Bobbitt

Ein epochales Werk über die Wandlung von Nationalstaaten zu Marktstaaten

und deren Bedrohungen – und was das angesichts der Finanzkrise bedeutet.

 

Das Buch: Philip Bobbitt: "Terror and Consent. The Wars for the Twenty-First Century", Allan Lane, London 2008. 672p.; Philip Bobbitt: "The Shield of Achilles. War, Peace and the Course of History", Knopf, 2002. XXXIV + 919p.

Der Rezensent: Dr. Oliver Roll, Managing Director, TELOS GmbH

Die Rezension

Das Selbstverständnis und die Rolle des Staates haben sich seit der "Wende" 1989/1991 erheblich verändert – auch auf globaler Ebene. Dies hat tief greifende Folgen für das Verhältnis von Wirtschaft und Politik. Das neue Selbstverständnis staatlicher Akteure bestätigt sich in der Reaktion auf die aktuelle Finanzkrise. Eine neue Form kriegerischer Auseinandersetzung zwischen Staaten bzw. dem Angriff auf diese gewandelte "Daseinsberechtigung" des Staates sollte dabei nicht aus den Augen verloren werden: der Terrorismus.

Philip Bobbitts 2008 erschienenes Buch "Terror and Consent" ist eines der wichtigsten Bü­cher dieses Jahrzehnts. Das sind große Worte für ein Buch, das mit seinen mehr als 600 engbedruckten Seiten zunächst einmal als "Angriff" auf unsere Lebens­zeit daherkommt. Neben dem persönlichen Urteil, das aus dieser Feststellung spricht, ergibt sich daraus eine Art Imperativ, dass die Lektüre für jeden, der sich mit Wandlungen der uns umgeben­den Paradigmen beschäftigen will, ein Muss ist! Tatsächlich erfordert die Lektüre der teilweise fach­sprachlichen Erörterungen von rechtlichen, strate­gischen, historischen, politischen und geheim­dienstlichen Aspekten viel Konzentration und einiges an Mühe, ins­be­sondere weil man sich mehrfach mit der eigenen Terminologie von Bobbitt anfreunden muss. Andererseits helfen gerade seine präzisen Definitionen im Umgang mit der interdisziplinären Materie, ja sie eröf­fnen teilweise eine neue und – weit wichtiger –  vor­ausschauende Perspektive. Keine leichte, aber eine lohnende Lektüre.

Warum verdient das erklärtermaßen politische, ja vielleicht sogar historische Buch hier eine Besprechung, warum muss es meines Erachtens auch von den "Wirtschafts­eliten" gelesen werden? (Trotz der Anführungszeichen meine ich damit alle Leser dieses Artikels). Ich denke, dafür gibt es mindestens drei Gründe: Erstens die Veränderung in der Begründung und Legi­timation wirtschaftspolitischen Handelns; zweitens eine bislang unterschätzte Ver­wund­barkeit der Weltwirtschaft; drittens die historische Analyse eines evolutiven Phänomens, welches wir gerade erleben und welches mittelfristig das Wesen der internationalen Kapital­märkte ver­ändern wird.

Kurz zum Inhalt des Buches, bevor ich einige Bemerkungen zu diesen drei Themenkrei­sen an­schließe, woraus sich für mich die Bedeutung des Werkes ergibt. Bobbitt (Jahrgang 1948) ist nicht nur als Professor für Recht und internationale Sicherheit in Texas tätig, son­dern diente auch in diversen US-Administrationen, u.a. im National Security Council unter Präsi­dent Bush Sr. und als Senior Director for Strategic Planning unter Bill Clinton. Prakti­sche Erfahrung und theo­retische Durchdringung aller Fragestellungen prägen auch sein Werk.

Das zentrale Thema des Bu­ches ist der "Krieg gegen Ter­ror" – d.i. aber kein Krieg gegen Ter­roris­ten, kein Kampf des Wes­tens gegen den Islam: Viel­mehr ist es der asym­metrische Kampf zwischen sog. 'states of consent', d.h. insbe­sondere den 'market states' des Westens, mit denjenigen Kräften, deren Ziel es ist, 'states of terror' zu er­­richten. Dieses Thema, dieser Begriff und Etikettierung hat das große Prob­lem, (nicht nur hier­zu­lande) Asso­ziationen mit der Wort­wahl eines bestim­mten Prä­sidenten der USA zu we­cken, die viele nicht mehr hören wollen und dass eine enorme Abstump­fung einge­treten ist. Hierzu ha­ben die zeit­liche Dis­tanz (über sieben Jahre seit 9/11) und ganz wesentlich eine verfehlte Politik seit­dem beige­tragen. Wenn je­doch die Miss­billigung einer be­stimmten Poli­tik und die damit assoziierte Be­griff­lichkeit – noch in Verbin­dung mit einem Ge­­wöhnungs- und Abstumpf­ungs­effekt – dazu füh­ren, sich mit ent­scheidenden Be­droh­ung­­en nicht mehr zu be­schäf­tigen, ist die Gefahr un­gleich größer.

Hinzu kommt, dass ich die überragende Bedeutung dieses Buches gerade nicht nur in der Beschäftigung mit dem globalen Terrorismus sehe, sondern mit dem Auf­weis, dass das Auftreten dieses Phänomens Ausdruck einer fundamentalen Veränderung des Staats­we­sens, der konstitutionellen Rahmen und der Staaten­gemeinschaft ist. Auf ge­wisse Weise ist "Terror and Consent" eine Fortsetzung des noch voluminöseren "The Shield of Achilles" aus dem Jahr 2002 (900 Seiten!). Bobbitt untersucht darin die konstituti­onellen Ver­ände­rungen, die wir zurzeit erfahren und bettet diese in einen großen histori­schen Zusam­men­hang ein. In dieser Perspektive erscheinen die Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus als Ausdruck einer Wandlung von konsti­tutioneller Verfassung, kriegerischer Aus­einander­setz­ung und geschichtlicher Ent­wicklung und erfordern daher Antworten in den über­schnei­denden Bereichen von Strategie, Verfassung, internationale Ordnung, Kriegs­führ­ung, Nach­richten­diensten, Recht, sowohl Binnenrecht als auch interna­tionales Recht.

Die zentrale Beobachtung dabei ist, dass jede Form des konstitutionellen Begründungs­zu­sam­menhangs der Staaten und der Staatengemeinschaft bestimmte Formen und Ausprä­gungen der kriegerischen Auseinandersetzungen und des Terrorismus mit sich brachte.

Aktuell geht es jetzt nach Bobbitt nicht lediglich um das Ende des nationalstaatlichen Para­digmas im Rahmen der Globalisierung; diese These ist mehrfach vorgetragen und vielfach pub­liziert worden. Die Bedeutung von Bobbitts Analysen ergibt sich daraus, dass er eine Kette von Entwicklungs­phasen identifizieren kann, in der die Substituierung der National­staaten durch Marktstaaten ('market states') nur ein Wandlungsprozess ist, der sich gegen­wärtig vollzieht. Aus der Analyse früherer "Systembrüche" ergibt sich damit eine schärfere Sicht auf die Be­droh­ungssituation unseres derzeitigen politischen und wirt­schaftlichen Systems. Der Grund liegt darin, dass die mit den Wandlungen auftretenden neuen krieg­eri­schen Formen der Aus­einandersetzung stets auf die neuen Begründ­ungs­zu­sam­menhänge des Gemeinwesens zielten. Für die sich herausbildenden 'market states' bedeutet dies um­ge­kehrt, dass die Angriffe zunehmend auf das Funktionieren der "Märkte" zielen werden.

Aus Bobbitts Diagnosen ergibt sich daher auch eine klarere und neue Perspektive auf die Legi­timation wirtschafts­politischen Handelns, die uns zukünftig in einer "anderen" Welt von Wirt­schaft und Politik erwarten wird. Insofern hilft die Lektüre von Bobbitt, einzuordnen, wie sich das Verhältnis von Politik und Wirtschaft bereits im Umgang und in der Reaktion auf die Finanz­krise 2008 ver­ändert hat. Dies ist für mich der erste Grund, warum die Überle­gungen dieses Buches so wichtig sind.

Der Begriff des Marktstaates erfasst ein neues Selbstverständnis des Staates und seiner Legiti­mation und ist gleichzeitig Ausdruck der Globalisierung. Nach Bobbitt lag die Begrün­dung der Na­tional­staaten, ihre Legitimation, in der Aufgabe, die materiellen Lebens­beding­ungen seiner Bürger zu schützen; dies konnte im Rahmen einer geographischen Ab­grenz­ung in­nerhalb des jeweiligen Territoriums erfolgen. Im Marktstaat besteht die Aufgabe des Sou­ve­räns darin, dem Individuum größtmögliche Chancen und Möglichkeiten ('oppor­tuni­ties') zu bieten. Wirt­schaftliche Überlegungen und Prinzipien erhalten somit über­ra­gende Bedeu­tung, der Staat wird vom Durchführenden zum Organisator und Auftrag­geber: Pri­vati­sie­rung, Delegation, Out­sourcing und der­gleichen werden zu vorherr­schenden An­sät­zen staat­lichen Handelns.

Dabei sind die wirtschafts­politischen Implikationen und die Auswirkungen auf die globalen Finanz- und Kapitalmärkte, die sich aus den von Bobbitt diagnostizierten Wandlungen in der weltpolitischen Ordnung ergeben haben, eben gerade von ihm noch nicht analysiert wor­den. Dies steht gewissermaßen als "Forschungs­progamm" noch aus! Ein Ergebnis im viel­leicht kapitalistisch zu nennenden Paradigma der internationalen Finanzmärkte, wel­ches die Finanz­krise 2008 zeitigte, war sicherlich eine "Rück­kehr des Politischen" an die Wall Street. Welche Auswirkungen dies auf das Denken und Handeln der wirtschaftspoliti­schen Eliten haben wird, kann ich derzeit noch nicht abschätzen. Die Schnelligkeit, mit der Regulierung und staatliche Eingriffe in die Finanz- und Kapitalmärkte als Remedur und nicht als (eine der) Ursache(n) identifiziert wurden, überrascht. Auch ist es noch zu früh, abzuschätzen, wie sich in Folge der staatlichen Stützungsaktionen, Staatsbeteiligungen usw. das Verhält­nis der Wirtschaftseliten zur Politik gestalten wird; dass es sich verändern wird, steht außer Frage.

Interessant ist, dass Bobbitt in seinem früheren Werk aus dem Jahr 2002 noch spekulieren kon­nte, dass eine Handlungsmaxime von Wirtschaftspolitik die Schaffung möglichst un­regu­lierter Märkte wäre (freier Kapitalverkehr und all dass). Aus heutiger Perspektive mag diese damals getroffene Annahme nachvollziehbar sein, zeigt meines Erachtens jedoch, dass trotz einiger Gedanken zu wirtschaftspolitischen Fragestellungen, die sich in beiden Bü­chern finden, die Thematik bislang noch lange nicht zu Ende gedacht ist.

Ich bin davon überzeugt, dass Bobbitts Analysen in jedem künftigen Nachdenken nach der gegenwärtigen Krise über die Rolle von staatlichem Handeln, Wirtschaftspolitik, Glo­bali­sie­rung usw. – ausgesprochen oder unausgesprochen – die Basis bilden. Diese Basis bilden sie zunächst einmal dadurch, dass uns Bobbitt in diesem Buch – und noch mehr in seinem Vor­läufer "The Shield of Achilles" – eine völlig neue Perspektive auf die Wandlung unseres Staats- und Gemeinwesens in den letzten Jahren geliefert hat: Sein Begriff 'states of con­sent' deutet auf diese Legitimation hin, sein Begriff 'market state' verdeutlicht sie. Mir er­scheinen jedoch sämtliche Maßnahmen der Politik, von finanziellen Stützungsaktionen bis zu neuen An­sätzen von Aufsicht und Regulierung ein Beleg für Bobbitts Diagnose der Wandlung un­seres Gemeinwesens hin zu 'market states': Es scheint, als habe – unbe­wusst und unaus­ge­sproch­en – die Politik realisiert, welcher Paradigmenwandel im staatli­chen Be­grün­dungs­­zu­sam­menhang stattgefunden hat. Die Frage oder Begründung für die staatli­chen Ein­griffe sind nicht mehr klassischer ordnungspolitischer Natur, sie kommen aus dem "Herzen" der Legi­timation des staatlichen Handelns im 'market state', dessen Aufgabe zwar nicht mehr die Bereitstellung des materiellen Wohlstands seiner Bürger ist, sondern die Schaf­fung und Sicher­stellung geeigneter Rahmenbedingungen. Dies impliziert den Primat einer regulierenden und Aufsicht führenden Wirt­schafts­politik und damit ein neues Selbst­ver­ständnis der Politik ins­ge­samt.

Ein zweiter Grund, warum Bobbitts Analysen zur neuen globalen Ordnung von 'market sta­tes' für jeden eine entscheidende Rolle spielen, ist die Tatsache, dass wir gerade in den Weiter­ungen der Subprime-Krise und der Krise des Investment-Bankings bis hin zu einer globalen Bank- und Finanzkrise und der anschließenden Transmission in die Real­wirt­schaft erleben, wie verletzlich die gesamte Weltwirtschaft geworden ist. Wir sehen dabei die ge­genwärtigen Probleme als Ergebnis des Platzens einer oder mehrerer Blasen an den Fi­nanzmärkten oder innerhalb des Systems der Finanzintermediäre. Der Ursprung liegt mithin in endogenen Ent­wicklungen, die nicht durch eine externe Macht, Einfluss­gruppe, Terroris­ten o. ä. ver­ursacht worden sind. Meine Überzeugung ist, dass die poten­ziellen Auswirkun­gen ex­terner Attacken – terroristischer Natur – bislang in ihrer möglichen Schwere auf das Wirt­schafts­leben unter­schätzt werden. Gewiss haben die Angriffe vom 11. September zu Ver­werfungen an den Börsen geführt – vielleicht indirekt auf eine ge­wisse Art und Weise durch die nach­folgende Politik der Fed sogar mit zu der gegenwärti­gen Krise. Jedoch sind für mich die denkbaren Folgen von global agierenden terroristi­schen Gruppen – unter Um­ständen aus­gestattet mit Massen­ver­nicht­ungswaffen – ange­sichts dessen, was wir derzeit an In­stabilität und Verletz­lichkeit der vernetzten Märkte er­leben, noch hoffnungslos unter­schätzt. Der Glaube, die Auswirkungen solcher exogener Schocks an den Finanz- und Ka­pitalmärkten mit histo­risch bewährten Methoden eindäm­men zu können, wurde nicht durch die Anschläge vom 11. Sep­tember, Madrid oder Lon­don in Frage gestellt, aber er wird die­ser Tage durch die Aus­wir­kungen der Subprime-Krise Lügen gestraft.

Bisherige Überlegungen, die Auswirkungen terroristischer Attacken einzudämmen, mögen mit technokratischen Maßnahmen wie der Duplizierung von Rechenzentren und Bereit­stel­lung logistischer Mittel (Geldbestände, Ersatz-Handelsräume und dergleichen) die Basis­erforder­nisse zum Funktionieren der Märkte sicherstellen. Wenn es jedoch eine Lehre aus den ver­gangenen Monaten gibt und dem, was aus der Subprime-Krise geworden ist, so ist dies die Bedeutung der Psychologie und des Vertrauens für das Funktionieren der Märkte. Ich glaube, dass Untersuchungen und Überlegung nötig sind, wie mit den psychologischen Auswirkungen terror­istischer Attacken umzugehen sein wird (und hier konzentriere ich mich auf die Aus­wirkungen auf das Finanzmarktgeschehen; unnötig zu erwähnen, dass gerade bei einem Ein­satz von Massenvernichtungswaffen durch Terroristen ganz anders "dimensi­onierte" massen-psycho­logische Auswirkungen auftreten werden). Die bisherige Einstufung als Akte krimi­neller Natur, denen daher wenn überhaupt nur lokale und zeitli­che begrenzte "Schreckens"-Aus­wirkungen zugebilligt wurden, greift zu kurz. Wir haben bei bisherigen Er­eig­nissen dieser Art im Bereich der Liquiditätssteuerung Maßnahmen geldpolitischer Natur erlebt – mit posi­tiven Wirkungen. Was ergibt eine Szenario-Analyse, in der in einer zu heute ver­gleichbaren Situation die geldpolitischen Maßnahmen bereits am "Rande" ihrer Wirk­samkeit eingesetzt sind und es dann, in einer solchen Phase, zu ter­roristischen Attacken kommt?

Der dritte Grund, den ich für die über­ra­gende Bedeutung von Bobbitts Werk an­füh­ren möchte, ist vor allem akademisch oder historisch zu sehen – damit jedoch nicht minder inte­ressant. Ich glaube, es ist relativ leicht, in der historischen Rück­schau große Entwicklungen und deren Richtung zu iden­ti­fizieren und in ihrer Be­deutung einzuord­nen. Dies als Zeitge­nosse, als Zeuge dieser Veränderungs­prozesse zu erkennen und in den Auswir­kungen zu analysieren, ist eine ungleich schwierigere Aufgabe. Es über­zeugt durch scharfe Ana­lysen dessen, was getan wer­den kann und muss, um mit dem sich entwickelnden Problem­feld des Terro­ris­mus umzu­gehen. In der Destillation der "Botschaft" der bis­herigen Historie und dem, was dies für unsere Zukunft bedeu­tet, ist das Werk außerordentlich.

Wenn ich oben von einer Rückkehr des Politischen sprach, so bedeutet dies ja eine vorher­gehende Verringerung der Bedeutung des politischen Raumes, man könnte sagen des "Po­litischen an sich". Dieses Phänomen haben wir in Form eines langsamen, aber lang­jähr­igen Prozesses beobachten können. Hierzulande lässt sich eine Wellenbewegung, ein Auf-und-Ab feststellen, vom Wirtschaftswunder der 50er und 60er Jahre über die 68er Bewegung bis zum "Deutschen Herbst" in den 70ern, wiederum abgelöst vom beginnen­den wirtschaftli­chen He­don­ismus der 80er. Der vorläufig letzte Höhepunkt im Politischen ergab sich wäh­rend der Auf­lösung des Ostblocks 1989—1991 (für Bobbitt das Ende des "langen Krieges 1914—1990"), direkt gefolgt von einem euphorischen Glauben an die zentrale Bedeutung und politische "Heilswirkung" durch die Sicher­stellung marktwirtschaft­licher Rahmen­be­ding­ungen.

Die Dominanz aller wirtschaftspolitischen Be­grün­dungs­zu­sam­men­hänge seitdem (Fuku­ya­ma's End of History) wird von Bobbitt in der Ter­minologie vom Auf­stieg des 'market state' zusammengefasst, den er symbolisch mit der "Russischen Revolution" 1989 assoziiert; den Niedergang des nationalstaatlichen Wesens kann man nach Bobbitt mit dem Datum des Scheiterns des jugoslawischen Staates 1991 in Verbindung setzen. Ohne diese These weiter im Einzelnen hier zu belegen, könnte man hier noch zwei Gedanken zur Illus­tration dieses Phänomens in der jüngsten Zeit anführen: Die relative Einordnung im Wertekatalog einer Gesellschaft zeigt sich deutlich in den Ausbildungs- und Karrierewegen derjenigen, die sich zur "Elite" rechnen möchten. Dies hat sich auch in den Gehaltsentwicklungen (ins­besondere über Boni) in der Finanzindustrie relativ zu Ver­dienst­mög­lichkeiten in politi­schen Ämtern gezeigt (beide Aspekte sind nicht völlig unabhängig vonein­ander). Vor die­sem Hin­tergrund sind die gegenwärtigen staatlichen Hilfsaktionen, Garantien, Ein­fluss­nahmen usw. ein beson­ders interessantes kulturgeschichtliches Phänomen. Eine Bestäti­gung oder Wi­derlegung meiner These, dass diese gegenwärtigen Maßnahmen Ausdruck eines neuen politischen Selbst­verständnisses sind, weil sie in einen größeren konstitutio­nellen Verände­rungsprozess ein­gebunden sind, werden relativ bald die Diskussionen über "Exit-Strate­gien" zeigen (die es bislang ja noch nicht gibt): Derzeit findet wenig Diskussion darüber statt, ob und wenn ja wie der Einfluss der Politik wieder zurückgeführt werden kann.

Ein anderer Aspekt ist die zunehmende  Verlagerung von staatlichen und/oder hoheitli­chen Aufgaben auf supra­natio­nale Einheiten, gerade in Europa, aber auch beispielsweise der NATO oder der UNO und belegt das Phänomen, weil sie zu einer zunehmenden "Entfer­nung" der Bürger, des Individuums von den regu­lierenden oder staat­lichen Insti­tuti­onen geführt hat. Eine "Opfer­bereitschaft" für Staat, Nation oder Gemein­schaft, wie sie beispiels­weise im Sommer 1914 in extremis auftrat, erscheint heute geradezu undenk­bar (in dieser Form würden wir sicherlich sagen "zum Glück"). Dies gilt aber auch weitverbrei­tet für alle Arten von mittlerweile gewünschten, weil im heutigen Wertekatalog geforderten "minimal-invasiven" militärischen oder humanitären Eingriffen, sei es beispielsweise im Kosovo, Kongo, u.v.m. Auch hier ist ein vor­herrschender Gedanke der des "outsourcings", der Wunsch nach Er­le­digung der Aufgabe durch pro­fes­sio­nelle Kräfte. Dabei verbirgt die posi­tive Konnotation von "pro­fes­sionell", dass das Nicht-Be­trof­fensein des einzelnen Bür­gers in seinem individuellen Leben ein sehr ge­wünschter Nebeneffekt dieser Arbeits­teilung im Marktstaat ist.

Der Wandel im Verhältnis des Einzelnen zum Gemeinwesen, zum Staat, sowie der Staa­ten­gemeinschaft insgesamt ist für uns, vor dessen Augen er sich abspielt, wie stets bei fun­da­mentalen historischen Prozessen schwer erkennbar. Umso wichtiger erscheint mir, darüber nachzudenken, was dies für das Verhältnis von Wirtschaft und Politik und damit für die Fi­nanz- und Kapitalmärkte bedeuten wird. Auch das wirtschaftspolitische Denken hat einen parallelen Loslösungsprozess von der fokus­sierten nationalstaatlichen Perspek­tive erfah­ren, wo es um globale Themen geht (Ressour­cen, Klima, usw.). Genauer gesagt, erleben wir im­mer öfter ein Ringen der einen über die andere Per­spektive und befinden uns damit mitten in dem Aspekt der Legitimation staatlichen Handelns (Regulierung, Auf­sicht) ange­sichts glo­baler "Bedrohungen".

All das, was Bobbitt im Bereich der strategischen, politischen, nachrichtendienstlichen und recht­lichen Sphäre (Binnenrecht und internationales Recht) vorschlägt, hat parallele Aus­wir­kungen auf die globalen Finanzmärkte. Es erscheint mir jedoch eine inter­essanter As­pekt, dass bezüglich der Sorge um die weltweite Finanzmarktstabilität die Über­legungen hier schon weiter sind und eine durchaus globale Perspektive pflegen, jedoch in Bezug auf die Rück­wirkungen aus dem Politischen oder möglichen kriegerischen und/oder terroristi­schen Akten noch kaum unter­sucht sind. Hierfür mag es zwei Gründe geben. Entweder handelt es sich um eine Art von "Arroganz des Kapitals" (gemäß der Devise "das wird uns schon nichts an­haben"), oder um eine Art Defätismus, dem zur Folge es sowieso keinen Sinn hätte, sich gegen derartige Bedrohungen absichern zu wollen.

Eine kritische Anmerkung zum Buch zum Schluss. Die These vom Krieg gegen den Terror wird präzise entwickelt und begründet – und erscheint angesichts der vorgetragenen Argu­mente überzeugend, auch wenn die Terminologie wie anfangs erwähnt ein wenig aus ei­ner bestimmten politischen Richtung zu kommen scheint – was sie nicht tut. Was ich bei dieser Diskussion in diesem Gedankenkreis vermisst habe, ist jedoch das Thema organi­sierte (in­ter­nationale) Kriminalität und das Verhalten mafiöser Strukturen. Gewisse Ähn­lichkeiten im Vergleich mit dem internationalen Terrorismus a la Al Kaida sind unbestreit­bar, von glo­ba­len Operationen, der Bildung und Nutzung von Netzwerken, dem Einsatz sämtlicher moder­ner Kom­muni­­kations­technologien und dem Prinzip "outsourcing". In der Bekämpfung dieses Krebs­ge­schwürs ergeben sich ähnliche Probleme wie in der Be­kämpfung des Terrorismus. Insofern ist einerseits zu fragen, ob sich diese beiden Phäno­mene in Bezug auf Ihre Ziele unter­scheiden, aber verwandte Mittel einsetzen und ande­rerseits, inwiefern Weiter­ent­wick­lungen im Bereich der konstitutionellen Ordnung, des Bin­nen- und internationalen Rechts und der ge­heim­dienstlichen und polizeilichen Informati­onsbeschaffung helfen, beide Prob­lem­kreise zu be­kämpfen. Dies gilt auch, weil zu be­fürchten ist, dass auch religiös- und/oder poli­tisch-fanatische Terrornetzwerke vom wirt­schaftlichen Erfolg diverser mafiöser Ver­eini­gungen lernen werden.

Wenn das neue Paradigma des Marktstaates den Nationalstaat abgelöst hat, wird die Poli­tik nicht einfach die Rahmenbedingung für Wirtschaft und das sozusagen reibungslosem Funktionieren der Finanzmärkte setzen. Der Fokus auf und die Aufsicht der Finanzmärkte wird mehr und mehr einem neuen, geänderten aber zentralen Selbstverständnis des politi­schen Handelns entsprechen. Ein ganz wesentliches Element der Legitimation der Regie­rungen wird in der Sich­er­stellung des Funktionierens der (internationalen) Kapitalmärkte liegen. Bei der Bewäl­tigung globaler Probleme, wie dem Umgang mit Ressourcen oder dem Klimawandel, wird dies gewollt und willkommen sein. Für die Finanzmärkte, wie wir sie heute kennen, wird dies jedoch im Begrün­dungs­zu­sammenhang der Staaten zentrale Ar­gument zu Veränderungen führen, die heute noch nicht abzusehen sind.

Vermutlich wird der regulative Rahmen wesentlich einheitlicher, an­dererseits die Vielzahl volkswirtschaftli­cher Einheiten in einigen wenigen großen Wirt­schaftsblöcken konzentriert. Dies wird glo­bale Investitionen zwar ein­facher machen, das Erzielen von Überrenditen durch Arbitrage oder spezifische Markt­kenntnisse und –fähig­keiten jedoch deutlich schwieriger. Mittel- bis langfristig wird die Bedeutung geographischer Diversifikation abnehmen und es wird insge­samt weniger Kategorien von Alpha-Quellen geben. Dies wiederum wird die po­ten­zielle Gefahr zu Blasen­bildungen in einzelnen Seg­menten er­höhen.

Der zweite (fiktive) Teil "Legitimacy and Consent: The Global Economy of Market States in the Twenty-First Century" ist noch nicht geschrieben, sondern mein persönliches Desi­de­ratum. Wer jedoch die gegenwärtige Ver­wund­barkeit des globalen Bankensektors und der Finanz­märkte erlebt und sich fragt, wie sich künftig das Verhältnis von Staat und Politik mit der globalen Wirtschaft gestaltet, wird auf Bobbitts Analysen aufbauen müssen. Meine These ist, dass der enorme historische und gesellschaftliche Erfolg des kapitalistischen Pa­radigmas – oder, weniger provokativ in der Wortwahl: des marktwirtschaftlichen Para­digmas – zur Ent­wick­lung des konstitutionellen Rahmens der Marktstaaten führte. Gleich­wohl be­deutet dies aber gerade, dass nun umgekehrt zunehmend wirtschafts­­politische Maßnah­men die Basis in der Legitimität politischen Handelns sein werden. Dies zeigt sich deutlich in der derzeitigen Finanzkrise, aber auch beispielsweise in dem hierzulande ubi­quitären Motiv der Herstellung "sozialer Gerechtigkeit" in zahllosen politischen Ent­schei­dungen. Be­obachtet man gleichzeitig den eklatanten Bedeutungs­verlust des Territoriums in der politi­schen Sphäre, weitet hingegen deren Wahrnehmungs­horizont auf die globale Perspektive aus, so wird dies sicherlich in der Adressierung globaler Probleme positiv zu bewerten sein. Es wäre aber naiv zu glauben, dass das Verhältnis von Politik und Wirt­schaft nach der Fi­nanzkrise so wäre wie vorher.