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Buchbesprechung: „Debt: The First 5,000 Years” von David Graeber

In vielen Sprachen – wie auch im Deutschen – ist der Wortstamm von "Schulden" identisch mit dem Begriff von Verantwortung oder Sünde („Schuld“ im Singular). Was finanzwirtschaftlich der „Schuldenschnitt“ ('haircut') ist, entspricht in dieser Begrifflichkeit „Vergebung“. Genau darum geht es (auch) in dem Buch von Graeber.

Die Rezension
Hier „schulden“ wir dem Leser sicherlich keine er- neute Rezension mit dem Hinweis, dass Graeber in diesem Buch viel bietet: Vor allem neue Perspektiven auf alte Beziehungen und einen grundsätzlichen „Kitt“ der menschlichen Gesellschaft, nämlich „Schuldverhältnisse“.


Das schon 2011 im Original erschienene Buch ist seit Mai dieses Jahres auch auf deutsch erhältlich – und liegt noch immer in den Buchhandlungen auf dem „vordersten Tisch“. Ein zeitgemäßer Titel also, vielleicht weil so viele der potenziellen Käufer und Leser auch (finanziell) verschuldet sind, oder weil wir alle jeden Tag von der Staatschuldenkrise lesen und hören und uns fragen, woher das nun eigentlich alles kommt?


Zunächst ist festzuhalten, dass der Hinweis im Titel („The first 5,000 years“) darauf hinweist, dass der aktuelle Bezug (Schulden bis Schuldenkrise) eingebettet wird in eine sehr langfristige historische Betrachtung. Graeber ist aber nicht Historiker, sondern Anthro­pologe. Das macht die Lektüre spannend und interessant, denn er geht mit einer anthropo­logisch-philosophischen Brille an die Frage, was Schulden eigentlich sind. Wobei dies nicht die einzige Frage ist, sondern auch: Wann und wie sind Geld und Märkte entstanden und was hat das alles mit Schuld-Beziehungen zu tun?


Andererseits ist Graeber „Anarchist“ (wobei ich diese Etikettierung aus Wikipedia zitiere) und Galeonsfigur der Occupy-Bewegung – darf man also Kapitalis­muskritiker sagen? Damit sind wir bei einer „Sollbruchstelle“ aller Publikationen zu diesen Themen: Müssen diese immer entweder aus der kapitalis­muskritischen Ecke kommen, oder den grundsätzlichen wirtschaftspolitischen Main­stream-Paradigmen verhaftet bleiben?


Der Anthropologe Graeber gibt uns viele neue, beunruhigend überraschende Ansichten auf dieses nur oberflächlich einfach erscheinende Phänomen der Schulden – und diese Aus­führungen gehören zum faszinierendsten dieses Buches! Leider weisen gerade diese Passagen sehr oft aber auch Längen auf, die Geduld erfordern – und die an diesen Stellen strapazierte Geduld wird nicht belohnt mit derselben analytischen Tiefe bei der Behandlung der aktuellen Schulden­krise(n).


Auch wenn der anthropologische Fokus des Buches für mich den eigent­lichen Wert ausmacht, möchte ich das „Bestseller-Phänomen“ ein wenig rela­tivieren: Die Publikation passt in diese Zeit, sie verspricht Antworten auf die drängenden Fragen – wobei sie mit ihrer soziologischen Funda­mental­kritik viel zu wenig konkrete Ant­worten liefert – vielleicht weil sie zu „funda­mentalistisch“ vorgenommen wird?


Graeber interpretiert die Schuldbeziehung zwischen Menschen als ein grundsätzliches soziales Phänomen: Schulden sind für ihn die Perversion eines Versprechens, wobei dieses Versprechen durch Quantifizierung („Geld“) und durch Macht und Gewalt („violence“) korrumpiert wird.


Die Betonung der Notwendigkeit von Machtausübung oder Gewalt, um der Schuldbeziehung überhaupt erst Nachdruck zu verleihen, ist sicherlich ein wichtiger Punkt von Graeber. Was ich ein wenig vermisst habe, ist die Diskussion des Potlatch, eines Phänomens, das unserem westlich-kapitalistischen Paradigma ganz erheblich widerspricht und der nun gar nicht in die Logik des Homo Oekonomicus passt. Die Analysen, die das Buch aus meiner Sicht auszeichnen, sind dabei gar nicht so neu, wenn man Schuld und Gabe als die zwei Seiten derselben Medaille sieht und dann an Marcel Mauss oder Maurice Godelier denkt, die im „Rätsel der Gabe“ schon viele von Graebers Überlegungen vorweggenommen haben. Bei diesen Anthropologen ging es ebenfalls um die grundsätzliche soziale Wechsel­wirkung durch Austausch („Die Gabe“) und die dadurch jeweils entstehenden Beziehungen der Beteiligten (Dank, Abhängigkeit, Schuld etc.).


Was können wir aus Graebers Lektüre – mit der fast schon kämpferischen kapitalis­mus-, markt- und geldkritischen Philippika mitnehmen? Mehr als einmal erscheint die nostalgisch verklärte „Ur-Gesellschaft“ ohne Geld, Markt und Schulden am Horizont, aber es drängt sich die Frage auf, ob nicht auch die Entwicklung der Institutionen, des Kredits als Basis aller Investitionsmöglichkeiten, damit der Basis von Innovation und Fortschritt, ihr Gutes haben? Die Austauschbarkeit, basierend auf der Abzählbarkeit von Schulden in Geld­einheiten, die vertragliche Fundierung dieser Schuld-Verhältnisse, einschließlich der Ein­for­derungs­möglichkeit über Verträge (Gewalt, Sanktionen) – all dies hat sich in meinen Augen nicht umsonst entwickelt – und ist aus der Geschichte der Gesellschaft nicht weg­zudenken.


Hier sind nicht nur „böse Kräfte“ am Werk, die durch ein politisches Credo „zurück-zum-Urzustand“ gebannt werden müssen. Eine radikale „Umwertung aller Werte“, die Abschaf­fung des Marktes – denkbare, aber keine realistischen Optionen und Wege. Worauf wäre dennoch zu achten, was ist dennoch aus der anthropologisch-soziologischen Analyse von Schulden (oder Gaben) mitzunehmen?


Ein zentraler Faktor ist die Notwendigkeit zur Heraus­lösung des Individuums aus Be­ziehungen (seiner Familie, Gruppe usw.). Die Hauptbotschaft von Graebers Buch ist für mich, dass sich das Wachstum der Geldwirtschaft und die Atomisierung des Sozialen als wechselseitiges Verhältnis in der Geschichte darstellen, ja geradezu bedingen.


Das ist eine Entwicklung, auf welche wir viel mehr achten müssen: In allen Lebensbereichen nimmt eine vertragliche geregelte Definition des Menschen über quantifizierte Rechte und Pflichten des Individuums zu, welches gleichzeitig und dadurch aus ganz grundsätzlichen menschlichen elementaren Beziehungen herausgelöst wird: Auch wenn die Familie überleben und ernährt werden muss, kann nur jeder einzelne arbeiten und Geld zur Bestreitung des Lebensunterhalts einen Arbeitsvertrag annehmen oder Empfänger von Sozialhilfe („Gaben“) sein. Rechte und Pflichten von Eltern ihren Kindern gegenüber werden zunehmend Gegenstand rechtlicher Regelungen, d.h. obliegen dem Staat oder Markt. Demo­graphische Entwicklungen werden zum Gegenstand finanz- und rentenpolitischer Über­legungen, der Mensch zum Pflege-“Fall“.


Auch hier ist klar, dass die verbesserte rechtliche und finanzielle Regelung für jedes Individuum ihre guten Seiten hat – aber ich glaube – und das ist für mich die Lektion von Graebers Schulden – dass wir diese Tendenz genau im Auge behalten müssen, damit die Beziehungen des Individuums nicht in allen Lebensbereichen zum veräußerbaren, quantifizierbaren Rechtsregel-Gegenstand werden. Jede Gabe stellt eine Beziehung her (Versprechen, Schuld, Dank) – und die Frage, ob oder welche Schulden zurückgezahlt werden müssen, ist daher immer mehr als eine rein finanz­wirt­schaftliche.


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Das Buch: „Debt: The First 5,000 Years“, Melville House, New York, 2011
(Deutsche Ausgabe: „Schulden: Die ersten 5000 Jahre“, Clett Kotta 2012)


Der Autor:
David Graeber

Der Rezensent: Dr. Oliver Roll, Managing Director, max.xs financial services AG
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Hinweis: Eine Kurzfassung dieser Rezension erschien in der FAZ am 10. Oktober 2012.